Sie galt in den 20er-Jahren als Vorbild modernen Städtebaus. Noch heute schwärmen Bewohner vom Zusammenhalt - doch die Idylle ist in Gefahr.

Winterhude. Manche Bewohner sagen, wenn man zurückkommt nach einem Arbeitstag, dann ist es, als werde vor der Jarrestadt gleich die Brücke hochgezogen. Wie eine Trutzburg liegen die dunklen, lang gezogenen Klinkerbauten dann da, Reihe an Reihe, eingebettet zwischen die schützenden Ufer des Oster- und Goldbekkanals. Eine kleine Stadt in der Stadt.

Vor 80 Jahren galt die Jarrestadt als Musterbeispiel modernen Städtebaus. Der damalige Hamburger Oberbaudirektor Fritz Schumacher rief Mitte der 20er-Jahre einen Architektur-Wettbewerb für das Gelände südlich des Stadtparks aus. Hier, ganz in der Nähe der Industrieanlagen und Fabriken am Kanal, sollten Arbeiterwohnungen entstehen: klein, bezahlbar, und vor allem modern. Neueste Erkenntnisse der Architektur und der Stadtplanung flossen ein - heraus kamen geräumige Wohnungen, die gut zu heizen und zu belüften waren. Große Innenhöfe, Plätze und Grünachsen sollten einen Ausgleich schaffen für das Wohnen in Etagenhäusern.

Ähnlich revolutionär wie die Reformbauweise war der sozialpolitische Ansatz, der dahinter stand: höchster hygienischer Standard zu erschwinglichen Preisen; für Menschen, die sich Gesundheit eigentlich kaum leisten konnten. Als vorbildlich wurde das Konzept in ganz Europa gefeiert. Zwar ging es letztlich nicht ganz auf. Die Standards waren ebenso hoch wie ihre Kosten, sodass die ersten Mieter leitende Angestellte und Handwerker waren. Doch schon bald entwickelte sich zwischen den Zugezogenen ein ganz besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl. Schön, das sagen auch heutige Anwohner, ist die Jarrestadt zwar nicht spontan. Aber es sei Liebe auf den zweiten Blick. Eine Beziehung, die, einmal eingegangen, oft für ein ganzes Leben hält.

Franz Kock ist 95 Jahre alt, die Brust hält er aufrecht, die Augen sind wach. Seit fast 60 Jahren wohnt er in der Jarrestadt. Im Jahr 1954 ließ er sich einen Granatsplitter aus der Lunge operieren, das letzte Überbleibsel des Krieges. Der Arzt gab ihm den Splitter in einer Schachtel mit. Im selben Jahr bezog Kock mit seiner Frau die Wohnung an der Großheidestraße, im Parterre, ohne Balkon, weil sie die letzten Mieter waren im Haus. Zu viert haben sie die zwei Zimmer früher bewohnt, die Töchter im Schlafzimmer, die Eltern zogen abends im Wohnzimmer die Couch für sich aus. Die Schachtel mit dem Splitter legte Kock in eine ruhige Ecke und schaute erst Jahre später wieder hinein. Da war der Inhalt zu Staub zerfallen.

Was geblieben ist, sind Erinnerungen an schöne Zeiten. Im Innenhof teilten sich die Nachbarn einen Teppichklopfer, die Frauen hingen die Wäsche auf. "Heute", sagt Kock, "haben die Menschen Maschinen für alles." Schritt für Schritt, am Rollator, geht er manchmal die Straßen entlang, die seine Frau früher mit dem Hund abschritt, an alten Läden vorbei, wo sie gemeinsam Käse kauften. Die Jarrestadt war bekannt für ihre liebevollen Eckgeschäfte.

Heute gibt es einen Rewe, in dem sich die Anwohner fast verlieren zwischen den großen Regalen. Die alten Schaufenster in den Straßen, hinter denen sich auf kleinstem Raum Gemüseläden, Kolonialwarenhandlungen und eine Schlachterei drängten, sind mit Vorhängen zugezogen.

"Die Geschäfte sind zwar weg", sagt Joachim Lange, "aber das Gefühl ist geblieben." Er meint das Gefühl, im Dorf zu wohnen. Lange ist schon seit 26 Jahren da. Es war die Zeit, als die Straßen noch nach gebratenem Hering rochen und die Jarrestädter mit großen Körben die Läden durchgingen, um immer wieder in einem kleinen Plausch zu versinken. Übrig geblieben ist nur Langes kleiner Spielzeugladen Träumereich, 15 Quadratmeter, vollgestopft mit ausgewählten Spielsachen, wie man sie in großen Kaufhäusern nur selten bekommt. Immer wieder geht die Klingel an der Tür, verheißungsvoll wie in alten Kaufmannsläden. Dann trippeln Füße heran, Kinder stellen sich auf Zehenspitzen, sodass sie mit stets zu kurzen Armen nach Stofftieren und geschnitzten Puppen angeln können. Joachim Lange selbst ist bekannt geworden mit seinen Teddyzeichnungen, die den ganz frühen Modellen nachempfunden sind. Er hält nichts von den Bären, wie man sie heute überall bekommt. Denen werde oft gute Laune auf den Pelz gestickt. "Ein Teddy", sagt Lange, "lacht aber nicht. Ein Teddy ist melancholisch. Weil er immer die Laune des Kindes teilen muss, das ihn gerade braucht."

Die Sehnsucht nach alten Zeiten ist in der Jarrestadt stets gegenwärtig. Seit 20 Jahren gibt es ein Archiv, das Fotos und Zeitzeugenberichte sammelt. Langes Laden hat als einziger die Zeit überlebt, als die Leute Discounter entdeckten. Inzwischen floriert das Geschäft wieder. "Weil die Menschen plötzlich die kleinen Läden vermissen, in denen man sie beim Namen kannte." Manchmal, wenn ein unbekanntes Kind zu ihm kommt, zeichnet Lange eine kleine Skizze von dem Gesicht und schreibt den Namen darunter. Fürs nächste Mal.

Alina Trollmann ist noch jung, 26 Jahre, so alt wie der "Teddybärenladen", wie sie ihn nennt. Bis zwölf lebte sie in der Jarrestadt, dann zogen die Eltern nach Eidelstedt. Die Tochter zog mit, aber glücklich wurde sie nicht. Mit 18 Jahren mietete sie sich eine Wohnung in ihrem alten Block. "Eine Kindheit in der Jarrestadt ist wie eine Kindheit auf dem Land", sagt sie. "Nur mit besserer Anbindung an die Stadt." Alle ihre Freunde kamen aus der Nachbarschaft, die Treffpunkte hießen Inas Hof oder Melissas Hof, je nachdem, wer in den angrenzenden Gebäuden wohnte. Vor zehn Monaten wurde Alina Trollmann Mutter. Sohn Robin ist ein ruhiges Kind mit großen Augen. Seit seiner Geburt sucht sie eine neue Wohnung. Sie hätte es gern, wenn auch Robin im Viertel ihrer Kindheit aufwüchse, geschützt vor der Anonymität einer großen Stadt. Aber noch wichtiger ist ihr, dass er seinen Vater um sich hat. Für drei Leute ist ihre Wohnung zu klein. Der Anteil der Alleinerziehenden ist in der Jarrestadt besonders groß. 50 bis 60 Quadratmeter groß sind die Wohnungen im Schnitt. Was für Arbeiter früher Luxus war, ist heute schon vielen Kleinfamilien zu eng. Wer auszieht aus der Jarrestadt, heißt es, der baut ein Haus. Einen anderen Grund gebe es nicht.

Die Geschäfte sind Vergangenheit, und auch die Bausubstanz hat unter den Jahren gelitten. Energetische Dämmung, Nachverdichtung und Sanierung der Klinkerfassaden sind Dauerthemen im Viertel. Alte Gemeinschaftsräume auf dem Dach wurden zu Wohnungen umgebaut. Wie in den anderen Klinkersiedlungen, vor allem in Dulsberg, Barmbek und auf der Veddel, sind die alten Fassaden in Gefahr. Wasser ist zwischen Fugen und Backstein gedrungen, gefriert im Winter und dehnt sich aus; der Backstein platzt. Die alten, denkmalgeschützten Wände hat man schon mit verschiedenen Materialien neu zu verfugen und schützen versucht. Möglich wäre es, den Klinker vor der Originalfassade neu zu mauern - gut für die Dämmung, aber teuer. Auch manche Balkone und Laubengänge wurden schon erneuert, Stahl und Kunststoff statt des markanten weißen Betons früherer Jahre. Im Bemühen, sie zu erhalten, zerfasert die alte Architektur. Noch immer liegt der Jarreplatz brach, eine Rasenfläche in schönster Lage am Osterbekkanal, die durch eine Brücke mit dem anderen Ufer verbunden und zum Leben erweckt werden könnte. Einige der Innenhöfe wurden zu Parkplätzen umfunktioniert, an deren Notwendigkeit in den 20er-Jahren noch niemand dachte. Um das Grün zu erhalten, wurden Tiefgaragen gebaut. Zugeständnisse an andere Zeiten.

Dass sich der Name Jarrestadt - nie offiziell geworden - im Sprachgebrauch so selbstverständlich eingebürgert hat, zeigt, dass an der Jarrestraße noch heute eine etwas andere Welt beginnt. Joachim Lange sagt, dass hier die Jungen noch mit den Alten sprechen, dass sich jeder kennt. Alina Trollmann macht sich aber auch Sorgen um ihre Heimat. Von der anderen Seite der Kanäle her drücken die Mietpreise, immer mehr neue, immer besser betuchte Nachbarn gebe es. "Ich habe Angst, dass das Viertel versnobt", sagt sie. Die Jarrestadt, einst als Arbeiterviertel geplant, droht unter dem Druck steigender Preise ihren Dorfcharakter zu verlieren.

Diese Sorge hat Franz Kock nicht. Der Vermieter lasse ihn in Ruhe auf seine letzten Jahre, sagt er. Die kleine Wohnung ist sein Leben. 140 Fotoalben hat er an der Wand aufgereiht, Fotos von ihm, der Frau und den Töchtern, von alten Straßenzügen ums Eck. Sport und Politik schaut er heute gern im Fernsehen, doch erinnern kann er sich selten daran. Was gestern war, ist heute fern von seiner Wirklichkeit. Wichtig ist, was einmal selbstverständlich war. Wie er damals die Tochter zum ersten Mal über die Straße zur Meerweinschule brachte, Hand in Hand, die viel zu große Schultüte dabei. Das weiß er noch genau. Eigentlich wollten er und seine Frau noch einmal umziehen, in eine Wohnung mit Balkon, so wie die Nachbarn einen hatten. Doch dann starb die Frau im Urlaub, ganz plötzlich, an einem Schlaganfall. Als Franz Kock zurückkam, blieb er. Der Balkon war dann nicht mehr so wichtig.