Eine Glosse von Christopher Beschnitt

Kennen Sie das? Sie sitzen im Bus oder in der Bahn und lesen Zeitung - und alle lesen mit. Mal unauffällig von gegenüber die Rückseite, mal ungeniert von nebenan denselben Artikel.

Gut, dieses Phänomen der Co-Lektüre im öffentlichen Personennahverkehr ist nur allzu verständlich: Was soll man denn auch tun, wenn einem ein Mitpassagier beim Blättern die Aufmacher aus Sport und Klatsch oder gar die Seite eins förmlich unter die Nase wuchtet? Eben: lesen.

Nun scheint jedoch bei jenen Lesern, denen die Presse gehört, gemeinhin eine große Angst verbreitet zu sein: die vor dem Bilder- und Buchstabenklau durch die Schwarzleser ringsherum. Jedenfalls kennen die "Ur-Leser" einige Techniken zur Abwehr des offensichtlich unerwünschten Lesestoffteilens: das Verstecken der Zeitung im halb geöffneten Aktenkoffer etwa oder das geradezu olympisch motivierte Zusammenfalten, bis schließlich nur noch die wenigen für den Ur-Leser interessanten Zeilen zu erkennen sind.

Just gestern allerdings wurde ich Zeuge eines völlig gegensätzlichen Schauspiels: des freundlichen Presse-Herumreichens nämlich. "Möchten Sie weiterlesen?", fragte in der U-Bahn die Ur-Leserin einen Herrn, als sie aussteigen musste. "Gerne", antwortete dieser und nahm das Papier entgegen. Und ließ bereitwillig seine Sitznachbarin hineingucken. Und den Mann gegenüber mitlesen. "Nicht schlecht", murmelten die Leute. Und: "Das ist mal gut zu wissen!" Allerdings meinten sie damit nicht etwa einen Abendblatt-Bericht. Denn was sie lasen, war keine Zeitung - sondern der aktuelle Werbeprospekt einer Supermarktkette.

Kleine Preise teilen sich anscheinend leichter als große Geschichten.