Im “Studentenknast“ genannten Paul-Sudeck-Haus leben sehr unterschiedliche Menschen auf engstem Raum zusammen und bilden eine Ersatzfamilie.

Es ist unvorstellbar, was sich auf elf Quadratmetern alles unterbringen lässt. Ein Bett, ein Schreibtisch mit Stuhl, ein Schrank, ein Waschbecken und zwei Regale. In dem einen liegen die Ordner und Unterlagen für die Uni, das Lipgloss, die Nachtcreme und das Deo. Drumherum hat Inna Shadrina die Fotos von zu Hause aufgestellt. Das zweite Regal dient als Vorratskammer, Fernsehschrank und Blumenbank. Auf der Heizung trocknet die Wäsche. Es gibt ein paar Bücher, CDs und die komplette Staffel "Friends", der erfolgreichen US-Comedyserie. Inna sagt: "Friends ist meine Lieblingsserie."

Es ist Donnerstagabend im Paul-Sudeck-Haus, einem Wohnheim für Studenten an der Grenze zwischen Barmbek und Winterhude. Der graugrüne Betonklotz wird von den Bewohnern auch Studentenknast genannt. Elf Stockwerke hat das Gebäude, 484 Einzelzimmer, zwei alte Fahrstühle. Hunderte Klingelknöpfe reihen sich am Eingang aneinander. Jeder Knopf hat eine Nummer. Inna Shadrina hat den Klingelknopf mit der Nummer 403C. Die 30-Jährige kommt aus der Ukraine. Sie studiert Medienwissenschaften. Ihre Eltern wohnen 1145 Kilometer entfernt, Luftlinie. Inna findet das in Ordnung. "Meine Freunde sind hier in Hamburg", sagt sie. "Das ist meine Familie." Dazu gehören Ani und Helge, Christoph und Raol, Hakam, Sergej und Kim sowie weitere fünf Mitbewohner, die gemeinsam auf Flur C im vierten Stock des Gebäudes wohnen. Sie teilen zwei Klos, zwei Duschen, einen Balkon, zehn Quadratmeter Küche, 20 Quadratmeter Gemeinschaftsraum. Sie teilen das blaue Sofa, den kleinen Fernseher, sechs Herdplatten und vier Kühlschränke. Sechs Frauen und sieben Männer wohnen hier, sechs Deutsche und sieben Ausländer.

Inna ist eine von denen, die aus Zimmernachbarn Freunde macht, aus einer Gruppe von Mietern eine Gemeinschaft. Wirtschaftsinformatikstudent Sergej Winnik zum Beispiel ist gerade angekommen. Jetzt sitzt der 22 Jahre alte Ukrainer auf dem blauen Sofa im Gemeinschaftsraum und schwärmt: "Ich fühle mich schon jetzt heimisch." Die Flurgemeinschaft hat sich zum Kochen verabredet. So wie häufig am Abend. Inna bereitet Warenyky vor. Ein ukrainisches Nationalgericht. In der Küche haben sich inzwischen sieben Leute versammelt. Ani Luna versucht sich an einer Schokoladensoße. Sie kommt aus Peru, ist 26 Jahre alt und studiert Biochemie. Die langen, dunklen Haare trägt sie offen. Sie sei jemand, der viel redet und gerne lacht, sagt sie. Der Menschen brauche wie die Luft zum Atmen. "Ich bin ein Familienmensch. Nach Hause kommen und da ist keiner, das wäre nichts für mich."

Helge Magnussen ist ganz anders. Und trotzdem dabei. Er lebt in Zimmer 408C, Blick nach Osten, ist 20 Jahre alt und kommt aus dem kleinen Örtchen Wrist im Kreis Steinburg. Helge studiert Chemie im dritten Semester, sitzt morgens in der Uni, nachmittags im Labor und abends an der Supermarktkasse auf 400-Euro-Basis. Er braucht das Geld, um sich sein Zimmer zu leisten. 220 Euro zahlt er für elf Quadratmeter, Strom, Warmwasser und Heizung inklusive. Helge ist ein sogenannter "Flurgeist", einer von denen, die man so gut wie nie trifft. Nur manchmal schließt er sich der Gruppe an.

So wie heute Abend. Es ist 21 Uhr und Helge hat die Supermarktkasse verlassen. Jetzt kramt er den Pürierstab seiner Mutter aus dem Schrank und macht sich an die Kürbissuppe. Ani gießt die Schokoladensauce über ein Gemisch aus Mars und Crispy, während Hakam Alzayed aus Syrien meditativ in einer Pfanne rührt. Er will mexikanische Tortillas machen, und dafür müsse das Hähnchenfleisch schön weich sein. Heute ist sein letzter Abend in Flur 4C. Ein bisschen wehmütig ist er schon. "Gemeinschaft", sagt er, "ist für mich sehr wichtig. Am Ende kann man nicht allein leben."

Diesen Satz hört Inna Shadrina immer wieder. "Viele der ausländischen Studierenden haben eine ganz andere Vorstellung von Nachbarschaft als die Deutschen", sagt die Studentin. In der Ukraine, ihrer Heimat zum Beispiel, sei Nachbarschaft wie Familie. "Die Kinder treffen sich nachmittags im Hof, sie teilen Spielzeug und ihr Marmeladenbrot. Die Mütter verabreden sich auf den Bänken zum Kaffeetrinken." Hier in Deutschland sei vieles anonymer.

Im Paul-Sudeck-Haus ist das anders. Vielleicht auch, oder gerade weil die Mehrzahl der Bewohner aus dem Ausland kommt, Eltern, Geschwister, die Freunde weit weg sind. "Das hier sind alles meine neuen Freunde", sagt Raol Baires und klopft Hakam und Sergej fröhlich auf die Schulter. "Amigos", schnalzt der 20-Jährige lachend und zündet den Grill auf dem kleinen Balkon an. Er will Carne Asada brutzeln, eine Spezialität aus El Salvador.

Jeden Mittwoch hat die Bar im Erdgeschoss geöffnet. Dann zieht die Truppe aus dem vierten Stock runter. Um neue Kontakte zu knüpfen, das Nachbarschaftsterrain auch auf andere Etagen auszuweiten. "Manchmal", sagt Inna, "haben wir hier auch Pärchen. Die bleiben dann so lange glücklich zusammen, wie sie hier leben. Und wenn sie dann in eine eigene Wohnung ziehen, geht die Beziehung auseinander."

Christoph will von solchen Geschichten gar nichts wissen. Er hat eine Freundin. Sie wohnt auch im Studentenwohnheim. Natürlich wolle er irgendwann hier ausziehen. Wohin, das könne er jetzt noch nicht sagen. Auf dem Grundstück nebenan ist gerade ein Neubau fertig geworden. Schicke Eigentumswohnungen mit großen Balkonen, luxuriösen Einbauküchen und eleganten Bädern gibt es hier. Die Fassade des Hauses ist schneeweiß. Christoph schaut von seinem Schreibtisch aus direkt darauf. "Nein", sagt er dann. "Dort möchte ich nicht leben." Weil er dann all das aufgeben müsste, was er teilt. Die Dusche mit Hakam und Sergej, den Wäscheständer mit Raol, die Bar, die Turnhalle, das blaue Sofa und das Kühlschrankfach mit Inna. Unvorstellbar.