Elke und Dieter Nitz betreiben in Sasel Apfelwirtschaft mit über 50 Baumsorten auf die gute alte Art. Und liegen damit voll im Trend.

Sasel. Da liegen sie nun also vor uns, Elke und Dieter Nitz' Lieblinge der Saison, die Früchte monatelanger Feldarbeit, ausgebreitet auf einem Holztisch von vielleicht zwei mal zwei Metern, schillernd und saftig und natürlich verführerisch knackig. Ingrid Marie und Lord Derby, Stina Lormann und Kaiser Wilhelm und nicht zuletzt Signe Tillisch, eine grün-gelbe, hocharomatische Dänin, Elke Nitz' bevorzugte Sorte. "Die erkenne ich schon aus der Ferne am Geruch", sagt sie. Mehr als 50 Apfelbaumsorten haben die Nitzens. Jede hat ihre Geschichte, jede ihre Eigenheiten. Der Ontario lässt sich besonders gut lagern, der Klarapfel fällt schon im Juli und muss dafür sofort gemostet werden, der Boskoop ist eher sauer, die Bananenrenette sehr selten.

Elke Nitz, 72, und ihr (exakt am selben Tag geborener) Mann Dieter haben ihr Leben dem Apfel verschrieben (ihr zweites Leben, sagen sie selbst, seit sie verrentet und die Kinder aus dem Haus sind), und der Garten, in dem sie ihre Äpfel ernten, kann mit einigem Recht als appetitlichste Ausnahme im Stadtgebiet gelten. Mitten im Wohnviertel Sasel, umgeben von Ein- und Zweifamilienhäusern, betreiben die zwei äußerst alerten Pensionäre auf einem Areal von immerhin 100 mal 300 Metern Obstwirtschaft nach traditioneller Art. Seit nunmehr drei Jahrzehnten, eine Art Altes Land inmitten der Stadt.

Die norddeutschen Apfeltage

Größte Sammlung alter Apfelsorten

Das Land haben die beiden 1982 von der Stadt gepachtet, seither verbringen sie den Großteil ihrer Zeit auf der Wiese, um im Herbst plusminus 4000 Liter frisch gepressten Saseler Apfelsaft zu vermosten. Ein schwieriges Unterfangen - zumal in Hamburg, wo die Wohnpreise seit Jahren steigen und mithin auch der Druck, freie Flächen zu bebauen. Aber zugleich eines, das sich steigender Popularität erfreut. "Wir haben fast jede Woche Schulklassen zu Gast, die Leute fragen uns nach guten alten Sorten, und auf den jährlich stattfindenden Apfeltagen erscheinen zunehmend Familien, die kleine Baumbestände in ihrem Garten haben und Tipps brauchen, wie sie das Beste daraus machen", sagt Dieter Nitz.

Das Beste, das ist für die Nitzens zugleich das Natürlichste. Ihr Hobby verstehen die beiden zugleich als Dienst an der Umwelt, als Beitrag zu einer Vielfalt fördernden Landwirtschaft. Ihre Art des Obstanbaus, die sogenannte Streuobstwiese, ist in der Biobranche längst ein Modewort mit Symbolwert, so wie "Nachhaltigkeit" oder "Biodiversität". Gemeint ist damit der traditionelle Obstbau, so wie er in Mitteleuropa seit dem Mittelalter am Rand der meisten Siedlungen betrieben wurde, bis ihn nach dem Zweiten Weltkrieg die intensive Landwirtschaft verdrängte.

Die neue Anbau-Art war auf Ertrag und Effektivität getrimmt: wenige, möglichst resistente Sorten, Bäume mit niedrigen Früchten zwecks leichterer Ernte, reichlich Einsatz von Dünger und Pestiziden, viel makelloses Obst ist die Folge, mit wenigen Sorten wie Gala, Granny Smith, Golden Delicious. Obst als Designerware eben, der Markt wollte es so. Der Nachteil: jede Menge Chemie im Boden, belastetes Grundwasser, vermehrt auftretende Allergien, ländliche Monokultur, Verlust von Arten- und Sortenreichtum. Streuobstanbau ist dagegen erst mal vergleichsweise mühselig und unrentabel. Die hochstämmigen Bäume müssen mit Leitern beerntet werden und brauchen je rund zehn Meter Abstand zueinander, das Ernteausfallrisiko ist hoch - dieses Jahr etwa gab es wegen Frosts Anfang Mai nur recht wenige, dafür sehr große Äpfel, und "die Hälfte der Ernte schnappt sich eh der Apfelwickler", sagt Dieter Nitz über die besonders obsthungrige Mottenart. Auf der Plusseite stehen: großer Pflanzen- und Tierreichtum (rund 5000 Arten kommen auf Streuobstwiesen vor), lange Erntezeit (hochstämmige Bäume können 60 Jahre Früchte tragen, niedrigstämmige werden nach wenigen Jahren ausgetauscht). Sowie die Bewahrung seltener Apfelsorten, deren Geschmackserlebnis - dies können Autor und Fotograf bezeugen - den Nitzens vollkommen recht gibt.

Das ist auch ein Grund, warum sich der Trend zum intensiven Obstanbau längst umgekehrt hat. Wurden in den 50er-Jahren noch staatliche Prämien für die Rodung hochstämmiger Obstwiesen gezahlt, fördern die Bezirksämter heute die Rückkehr zur alten Anbauform. Dutzende Streuobstwiesen finden sich im Hamburger Stadtgebiet, anstelle des europäischen Standardsortiments werden dort vor allem solche Sorten kultiviert, die in Norddeutschland eine lange Tradition haben und sich vor allem für die hiesigen Boden- und Klimaverhältnisse eignen. Zum Beispiel Lokalmatadoren wie "Ruhm von Kirchwerder" aus den Vierlanden (knallrot gestreift, sehr saftig), der "Finkenwerder Herbstprinz" (glockenförmig, herb-süß), der "Wohlschmecker aus Vierlanden" oder auch der "Seestermüher Zitronenapfel" (grüngelb, süßsäuerlich). Vor allem die ersten beiden Sorten sind unkompliziert im Anbau, bringen gute Ernten und sind bis heute auf Wochenmärkten erhältlich.

Die Vielzahl der einzelnen Arten zu bestimmen, ist eine Wissenschaft für sich, wie Ulrich Kubina weiß. Der 60-Jährige organisiert seit zehn Jahren die Norddeutschen Apfeltage, bei der sich an diesem Wochenende die anerkanntesten Pomologen der Branche ein Stelldichein geben. Die Pomologie, also die Lehre der Arten und Sorten von Obst sowie deren Bestimmung, "ist vor allem eine Erfahrungswissenschaft", sagt Kubina. Welcher Sorte ein Apfel zugehörig ist, erschließt sich anhand von Geruch, Erscheinung, Form, Kern und Gehäuse, Farbe und Geschmack. Und manchmal brauchen selbst Kenner wie Dieter Nitz (der heute auf den Apfeltagen zum Thema "Visitenkarte einer Hamburger Obstwiese" spricht) Hilfe, um die Sorte ausmachen zu können.

Dass das Interesse an Obstbaumkunde zunimmt, kann auch Kubina bestätigen. Vor allem Konsumenten und Besitzer kleiner Hausgärten erkundigen sich vermehrt über Details umweltschonender Anbauweisen. Elke und Dieter Nitz freut solcher Andrang, geben aber zu bedenken: Eine Streuobstwiese braucht viel Pflege. "Wenn Sie so was auf der halben Backe machen wollen, lassen Sie's lieber bleiben."