Erdogan präsentiert sich als neue Leitfigur Arabiens

Der Besuch eines türkischen Regierungschefs in der arabischen Welt findet zwangsläufig vor einem prägenden historischen Hintergrund statt. Jahrhunderte lang waren die meisten Staaten rund um das Mittelmeer Teil des 1922 verblichenen Osmanischen Reiches, dessen Fläche die der heutigen EU bei Weitem übertraf. Und Premier Erdogan ist ein Potentat, der es an Machtbewusstsein leicht mit den damaligen Sultanen aufnehmen kann. Die Zeit des "kranken Mannes am Bosporus" ist lange vorbei; die Türkei kann vor Kraft kaum laufen, erfreut sich Wachstumsraten in nahezu chinesischen Dimensionen. Das türkische Modell einer erfolgreichen, und dazu vergleichsweise liberalen islamischen Gesellschaft ist schon seit Langem für Arabien attraktiv.

Nun aber, mitten im chaotischen Arabischen Frühling, empfiehlt sich Erdogan als zentrale Leitfigur eines möglichen neuen türkisch-arabischen Weltpols. Doch dazu ist eine Eiszeit im Verhältnis zu Israel sowie demonstrative Solidarität mit den Palästinensern Bedingung. Die im Westen äußerst umstrittene einseitige Ausrufung eines Staates, zu der die Palästinenser die Uno drängen, sei "keine Option, sondern Notwendigkeit", positionierte sich Erdogan gestern vor den Außenministern der Arabischen Liga.

Zwar stellt die wenig geschickte und beinharte Politik der Regierung Netanjahu in Jerusalem eine Steilvorlage für Erdogan dar. Doch mit seinem zunehmend islamisch und antiisraelisch orientierten Kurs gerät der türkische Premier auch immer mehr in Konflikt mit den USA und Teilen der EU. Es wird deutlich, dass der neue Sultan die Türkei nicht länger vor allem auf eine EU-Mitgliedschaft ausrichtet; dass ihm vielmehr eine dominante Rolle in der Mittelmeer-Region wichtiger ist. Dass er mit seiner israelfeindlichen Rhetorik Öl in die Glut der Nahostkrise gießt, scheint Erdogan in Kauf zu nehmen, solange ihm Arabien zujubelt. Ein für den Westen unappetitlicher Aspekt dieser strategischen Verlagerung ist zudem, dass Erdogan im Zuge des Kurden-Konfliktes sicherheitspolitisch auch enger mit dem Iran zusammenarbeiten will.