Er ist einer von 20: Claus Günther aus Stellingen hat den Krieg und die Nazizeit bewusst erlebt und berichtet davon in Hamburger Schulen.

Hamburg. Früher, als junger Mann, konnte sich Claus Günther nicht vorstellen, einmal alt zu sein. Graue Haare zu haben, eine Glatze. Viele Falten und noch mehr Gebrechen, aber keinen Job. Keine Aufgabe, kein Ziel. Unvorstellbar sei das gewesen, damals.

Heute, mit 80 Jahren, kann sich Claus Günther immer noch nicht vorstellen, einmal alt zu sein. Richtig alt. So alt, dass er nichts mehr unternimmt, dass er in den Tag hineinlebt. Zu alt, um gebraucht zu werden, um zu leben. Unvorstellbar - noch.

Noch. Dieses Wort fällt immer wieder, wenn man mit Claus Günther redet. Dann sagt er, dass er noch nicht so weit ist, aufzuhören. Dass er noch berichten will. Erzählen. Aufklären. Dass er den Jüngeren die Augen öffnen und verhindern will, dass so etwas noch einmal passiert. So etwas wie die NS-Diktatur, der Holocaust, Hitler. "Das ist die größte Aufgabe, die wir haben", sagt er, und am Ende des Satzes hängt ein stummes "noch".

Wenn Claus Günther "wir" sagt, dann meint er die Zeitzeugenbörse Hamburg. Dann meint er rund 20 freiwillige Mitarbeiter, die den Krieg und die Nazizeit bewusst erlebt haben und davon in Schulen berichten.

Es sind Menschen wie Lore Bünger, 88, deren Großvater als sozialdemokratischer Bürgermeister von Farmsen ins KZ Fuhlsbüttel gebracht wurde und die selbst die Zerstörung Altonas durch die Bombenangriffe erlebte. Menschen wie Hans Walther, 88, der in der Wehrmacht diente und das Kriegsende in Schlesien miterlebte, von wo er inmitten der flüchtenden Zivilbevölkerung in seine Heimatstadt Hamburg gelangte. Menschen, die miterlebt haben, was niemand erleben möchte. Hitlerjugend und Judenverfolgung. Euthanasie und Reichspogrom. Vieles davon kennen die Schüler von heute aus dem Geschichtsunterricht. Es sind die gleichen Sachen, wie sie in den Schulbüchern stehen, und doch nicht dieselben. Vielleicht, weil die Bücher nur Zahlen und Fakten transportieren, von unbekannten Personen berichten. Oder weil ein Geschichtsbuch nur ein Buch voller Geschichte ist. Irgendwie unwirklich. Irgendwie irreal.

Claus Günther ist real. Er wohnt in Stellingen, trägt Jeans, schreibt E-Mails und spricht eine Sprache, die Jugendliche verstehen. Er verherrlicht nichts, verschweigt nichts, verklärt nichts. Er erzählt einfach, wie es war. Als sein Vater mit der SA aufmarschierte und Claus Günther so stolz war, weil sein Vater die Fahne tragen durfte - in jener Novembernacht 1938, als im ganzen Land Juden verfolgt und ermordet wurden, Synagogen und Geschäfte brannten. Wie es war, als die Leute verschwanden. Die Zigeuner, deren Lager plötzlich nicht mehr da war. Die Frau aus der Nachbarschaft mit ihrer Tochter, die mongoloid war und "eine Spritze bekommen hat, weil es besser so ist", wie man ihm erzählt hat. Und die jüdische Familie, vor der man ihn immer gewarnt hatte. "Fängt dich der Jud, dann wird er dich schlachten tot", hieß es immer. Bis die Familie eines Tages weg war. Für immer.

Jahre später hat Claus Günther erfahren, dass die Familie ermordet wurde - und einen Stolperstein für sie gespendet. "Er soll an sie erinnern", sagt Claus Günther. Diesmal hängt er kein "noch" an den Satz. Sondern ein "immer".

Es heißt, dass man sein Leben nicht verlängern kann, nur vertiefen. Dass es nicht darauf ankommt, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben. Für 18-Jährige mag das nur ein Kalenderspruch sein, für 80-Jährige nicht. Aus diesem Grund engagieren sich immer mehr Senioren ehrenamtlich. Aus diesem Grund stieg die Quote der Ehrenamtlichen über 65 Jahren in den vergangenen zehn Jahren von 23 auf 28 Prozent an. Das sind die Zahlen, das ist die Statistik.

Erhard Gratz, 77, kennt sich aus mit Zahlen. 25 Jahre lang war er Manager bei Unilever und hat Speiseöl exportiert. Dann ist er in Rente gegangen und hat die Welt bereist, Afrika, Alaska, die Antarktis. Sein Leben schien ausgefüllt. Erfüllt. Bis er vor wenigen Monaten diesen Artikel las - darüber, dass in Afrika Freiwillige gesucht werden für das "Großkatzen-Konflikt-Management". Das Wort machte Erhard Gratz neugierig, das Projekt noch mehr: die Beobachtung und Begleitung von Raubtieren im Rahmen der jährlichen Tierwanderung. Bei dieser sogenannten Migration ziehen bis zu zwei Millionen Gnus, Zebras und Gazellen auf der Suche nach neuen Weidegründen von der tansanischen Serengeti in die kenianische Masai Mara. So steht es in den Werbeprospekten der Reiseveranstalter. Was dort nicht steht: dass die Herde von Raubtieren begleitet wird und diese auf der Jagd nach Beute nicht nur Gnus oder Zebras reißen, sondern auch menschliche Siedlungen angreifen. Die Folge sei fatal, so Erhard Gratz: "Die Löwen machen Jagd auf die Menschen und ihr Vieh, die Menschen machen Jagd auf die Löwen und vergiften diese. Vielerorts sind ganze Löwenpopulationen vernichtet worden."

Das will Erhard Gratz verhindern. Aus diesem Grund ist er jetzt auf eigene Kosten nach Afrika geflogen und engagiert sich dort ehrenamtlich in einer Schule für angehende Wildhüter. Er klärt auf, vermittelt, unterrichtet. "Die Natur liegt mir am Herzen und wenn ich nur einen winzigen Beitrag leisten kann, sie zu erhalten, dann tue ich das auch", sagt Erhard Gratz bestimmt.

"Das wenige, das du tun kannst, ist viel", hat Albert Schweitzer einmal gesagt und kann damit eigentlich nur Menschen wie Erhard Gratz und Claus Günther gemeint haben. Sie stehen stellvertretend für mehr als 23 Millionen Menschen in Deutschland, die sich ehrenamtlich engagieren. Freiwillig und unentgeltlich - aber nicht ohne Gewinn.

Menschen, die sich persönlich und wirtschaftlich einbringen. Der Olympische Sportbund schätzt, dass der ehrenamtliche Beitrag zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung rund 8,5 Milliarden Euro beträgt - pro Jahr und allein im Bereich Sport.

Für die Gesamtgesellschaft liegt der Wert um ein Vielfaches höher. Und persönlich ist er unbezahlbar. Sagt Claus Günther. "Eine positive Rückmeldung von den Schülern ist mehr wert als jedes Geld der Welt", sagt Herr Günther. Fast 40-mal hat der Hamburger vor Schulklassen gesprochen und von damals erzählt. Vom Krieg, von Hitler. Wie es war, ihn live zu sehen und zu merken, wie alt er in Wirklichkeit aussieht. Wie viele Falten er hat, die auf den Fotos nicht zu sehen waren. "Das bleibt vielen Schülern in Erinnerung", sagt Claus Günther und lacht. Das gehört zu den amüsanten Dingen, die er erzählt. Viele davon gibt es nicht. Weil der Krieg nicht amüsant war. "Das darf nie wieder passieren", sagt Herr Günther. Das ist seine Mission. "Aufklären bis zum letzten Atemzug", sagt er und zitiert Ralph Giordano. Dann verteilt Claus Günther die Infobroschüre der Zeitzeugenbörse Hamburg. "Sie fragen. Wir antworten", steht darauf. Und darunter ein dickes: Noch!