Heute vor 25 Jahren erschoss Werner Pinzner im Polizeipräsidium Staatsanwalt Wolfgang Bistry, seine Frau Jutta und schließlich sich selbst

Hamburg. Reinhard Max van Oosting hat kein gutes Gefühl an diesem Morgen. Um kurz nach 9 Uhr fährt der Kripobeamte, den alle nur Max nennen, in der Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis vor. Zwei Kollegen holen Werner "Mucki" Pinzner aus der Zelle. Das Losungswort lautet "Windbruch". Der Auftragskiller trägt eine Lederjacke, hat eine Plastiktüte vom Kaufhof dabei und ein verschlossenes braunes Kuvert. Er hat bereits fünf Morde gestanden und behauptet, noch mehr Menschen umgebracht zu haben, ohne konkreter zu werden. Vor diesem Hintergrund ist die entscheidende Vernehmung von Pinzner im Polizeipräsidium am Berliner Tor anberaumt. Es ist der 29. Juli 1986. "Ein sehr heißer Tag", sagt Max van Oosting. Und sein neunter Hochzeitstag. Aber den hat er vergessen.

Werner "Mucki" Pinzner hat schon einmal gesessen. Richtig lange. Nach dem Überfall auf einen Supermarkt in Hamburg, bei dem der Geschäftsführer erschossen wurde, wird der Sohn eines Rundfunkmechanikers und einer Filialleiterin im September 1975 zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt. Das letzte Jahr verbringt er im offenen Vollzug in der Justizvollzugsanstalt Vierlande. "Ich saß neun Jahre im Zuchthaus und bin jeden Tag gestorben", hat er in einer Vernehmung zu Max van Oosting gesagt. Und auch, dass der Staat durch die Haft aus ihm erst ein Monster gemacht habe. Oosting sagt, dass Pinzner sich manchmal "wie eine Diva" aufgeführt und immer Schuldige für seine Situation gesucht habe. Er ist Kokainkonsument, sprunghaft und in den Vernehmungen, so Oosting, war es schwierig, "den roten Faden zu behalten".

Pinzner ist 1947 in Bramfeld geboren worden und auch dort aufgewachsen. Er hat sich schon in der Schule geprügelt, hat keinen Abschluss, ist dann erst einmal zur See gefahren. Er schlägt seine Eltern, säuft und wird mehrfach wegen Körperverletzung verurteilt. "Er ist ein typisches Produkt der antiautoritären Erziehung", zitiert der Autor Dagobert Lindlau in seinem Buch "Der Lohnkiller" einen Mitschüler Pinzners. Die Verpflichtung bei der Bundeswehr scheitert an seinen Vorstrafen. Pinzner arbeitet - immer nur kurz - bei einer Reederei, als Fahrer, bei der Norddeutschen Affinerie, als Fliesenleger, im Fleischgroßhandel. Im Dezember 1969 versucht er, sich mit Tabletten umzubringen. Der Gutachter schreibt, Werner Pinzner sei "bei mäßiger Begabung ein ichbezogener, hemmungsloser ... Schlägertyp, ohne Bindung".

Es ist viertel nach neun. Sie fahren wie immer im Konvoi, nehmen diesmal aber eine andere Route als sonst. Als sie nach vier Kilometern am Berliner Tor ankommen, fahren sie nicht wie sonst durch die Seiteneinfahrt in die Tiefgarage. "Dort hätten wir am Schlagbaum einen Moment warten müssen, und direkt daneben war ein großes Gebüsch, das war mir zu unübersichtlich", sagt van Oosting. Was ist, wenn sich da einer mit einer Maschinenpistole versteckt und dann in den Wagen reinballert? Dann hätten sie ihren wichtigsten Zeugen verloren.

Der Kiez ist nervös in diesen Tagen und Wochen. Seit zwei Jahren nimmt der Machtkampf zwischen den Zuhältern auf St. Pauli praktisch täglich an Schärfe zu. Es geht um Bordell-Anteile und exzessiven Kokainkonsum, um Verteilungskämpfe des Straßenstrichs am Fischmarkt und an der Süderstraße, um illegales Glücksspiel und um Geldeintreibung. Rund um den Hans-Albers-Platz kontrolliert die sogenannte GMBH (Gerd, Mischa, Beatle und Harry) die Geschäfte, auf der anderen Seite der Reeperbahn verschaffen sich die aufstrebenden Jungluden der "Nutella"-Bande um den "Wiener-Peter" immer mehr Einfluss. Es hat Drohungen gegeben und handfeste Auseinandersetzungen. Und dann die ersten Toten.

"Wir haben immer damit gerechnet, dass es einen Anschlag auf Pinzner geben könnte", sagt van Oosting. Auf dem Kiez geht das Gerücht, dass auf den Auftragsmörder ein Kopfgeld von 300 000 Mark ausgesetzt ist, nachdem er sich nach seiner spektakulären Verhaftung in seiner Wohnung an der Steilshooper Straße im April 1986 entschlossen hatte, mit dem Staatsanwalt zu sprechen. Spätere Vernehmungen decken einen anderen Mordplan auf. Pinzner sollte in das Haus von "Hunde-Helmut" gelockt und dort erschlagen werden. Seine Leiche sollte in der Badewanne ausbluten, in einem Fleischwolf zerlegt und den Kampfhunden zum Fraß vorgeworfen werden.

Max van Oosting lässt den Konvoi direkt vor dem Haupteingang des Polizeipräsidiums halten. Von dort sind es nur wenige Meter bis zum Eingangsportal. Sie erreichen problemlos das Innere des Gebäudes. Es ist kurz vor halb zehn. Pinzner ist noch immer mit Handfesseln an einen weiteren Kripobeamten gefesselt. Van Oosting holt den Schlüssel heraus, den man ihm für die sogenannte "Hamburger Acht" gegeben hat. Er passt nicht. "Welcher Trottel hat mir den falschen Schlüssel gegeben?", flucht er. Nach längerem Suchen finden sie den richtigen. Sie führen Pinzner hoch in den 4. Stock, Zimmer 418. Erst hier werden die Handfesseln gelöst. Das Eckbüro von Max van Oosting am Ende des Flurs ist auch das Vernehmungszimmer. Sein Vorgesetzter Volker Schmidt hat ein paar Tage Urlaub. Van Oosting ist als Stellvertreter an diesem Tag handelnder Chef der Soko "855".

Lange haben sich die Politiker nicht nur in Hamburg dagegen gesträubt, mit der Einrichtung einer Fachdirektion sozusagen die Existenz des organisierten Verbrechens in Deutschland anzuerkennen. Von mafiaähnlichen Zuständen, so der Tenor, könne hierzulande keine Rede sein. Am 28. September 1981 hatte sich der Zuhälter Fritz Schroer kurz nach 8 Uhr abends in der Kiez-Kneipe Ritze direkt neben den "Wiener-Peter" an den Tresen gesetzt. Kurz darauf betrat ein Mann, der ein Jugoslawe, Italiener oder Türke gewesen sein kann, das legendäre Lokal auf der Reeperbahn und richtete den "Chinesen-Fritz" vor aller Augen mit drei Schüssen regelrecht hin. Ein paar Monate darauf wurde die Fachdirektion FD 65 für organisierte Kriminalität eingerichtet. Doch erst fünf ungeklärte Mordfälle später wurde im Mai 1985, daher auch der Name, die Soko "855" zusammengestellt.

Ein Team aus Spezialisten. Die elf Ermittler kommen aus den Bereichen Mordkommission, Milieudienststelle der Davidwache, Abteilung Organisierte Kriminalität (OK), sowie Rauschgift, EDV und Mobiles Einsatzkommando (MEK). "Der Mord an Chinesen-Fritz stand auf unserer Liste an erster Stelle", sagt Max van Oosting. Der Staatsanwalt kommt aus der Abteilung 25 (OK). Es ist Wolfgang Bistry. Groß gewachsen, kompetent und voller Elan. Es ist viertel vor zehn. Max van Oosting geht im vierten Stock in ein anderes Zimmer, um seine Waffe einzuschließen, damit sie ihm bei der Vernehmung nicht entrissen werden kann. Dort trifft er Wolfgang Bistry. Auch der Staatsanwalt hat seine Dienstwaffe vorschriftsmäßig eingeschlossen. "Dann lass uns mal anfangen, die Frauen sind schon da", sagt Bistry. Genau das hatte van Oosting verhindern wollen. Aus dem Auto hatte er noch telefoniert und gesagt, er möchte nicht, dass Pinzners Ehefrau Jutta und seine Anwältin ins Vernehmungszimmer reingelassen werden, bevor sie selbst eintreffen. Eine "innere Stimme" hatte ihm das gesagt.

Dann sind sie alle in Zimmer 418 versammelt. Zwei Kripobeamte, der Staatsanwalt, die Anwältin, die Protokollantin sowie Werner und Jutta Pinzner. Die hat eine Plastiktüte von Douglas dabei, mit Nußriegeln und ein paar Dosen Isostar drin. Dann sagt sie, sie müsse mal auf Toilette. Max van Oosting bringt sie hin, wartet vor der Tür. Er hat kein gutes Gefühl. Als sie wieder in den Raum zurückkommen, hängt sie ihre Handtasche an den Stuhl. Pinzner steht auf, geht an der Handtasche vorbei zum Fenster und sagt: "Kann man hier nicht wenigstens mal frische Luft reinlassen?" Dann verlangt er Kaffee, und anschließend fragt er, warum es heute nichts zu essen gebe. Van Oosting ist genervt. Andererseits müssen sie ihren Zeugen bei Laune halten. Zu viel hat er ihnen bereits über Strukturen und Hintermänner, Auftraggeber, Motive und Einzelheiten der Mordserie, die die Stadt erschüttert, verraten.

Am 7. Juli 1984 war Werner Pinzner mit Armin H. nach Kiel gefahren und hatte - auf Vermittlung des "Wiener-Peter" - den ehemaligen Bordellbesitzer Jehoda Arzi, der seine Ex-Frau und seine Tochter mit ihrer Vergangenheit erpresste, in dessen Wohnung erschossen. Mit einem Revolver der Marke Arminius, Kaliber 38, und der Besonderheit "zehn Zügen mit Rechtsdrall". Am Abend des 12. September fahren Pinzner und sein Komplize mit dem "Bayern-Peter" Pfeilmaier in dessen neu lackiertem Pontiac Firebird nach Bramfeld, um angeblich ein Drogengeschäft abzuwickeln. Sie halten am Ende eines Garagentrakts am Hirsekamp. Nach Mitternacht tötet Pinzner den Zuhälter vom Bordell Hammer Deich vom Rücksitz aus mit einem Kopfschuss. Der kokainsüchtige "Bayern-Peter" war seinen Teilhabern aufgrund seiner Sucht immer lästiger geworden. 30 000 Mark sollte Pinzner für den Mord bekommen und eine Beteiligung an einem Bordell.

Am 14. November 1984 fährt Pinzner nach München und erschießt dort "Lackschuh-Dieter" Traub, der zusammen mit dem "Wiener-Peter" das Bordell Palais d'Amour betrieb. Auch dieser Zuhälter war für seinen Partner durch seinen hohen Kokainkonsum zur Belastung geworden. Am 8. April 1985 klingeln Werner Pinzner und Siggi T. bei Waldemar "Neger-Waldi" Dammer an der Halstenbeker Straße 32. Pinzner hat seine übliche Jogginghose an, T. eine olivgrüne Bundeswehrhose. Dammer betreibt das Bordell Hollywood im Eros-Center, einer seiner Wirtschafter ist Ralf Kühne. Dammer hatte wenige Wochen zuvor im Salon des Palais d'Amour den "Wiener-Peter" an die Wand geklatscht. Kühne öffnet, wenig später sind Kühne und Dammer tot. "Also, 'der-Wiener'", hat Werner Pinzner in einer Vernehmung über seinen "Auftraggeber" gesagt, "ich hätte fast eine Lebensstellung bei ihm haben können." Und dass er ihm Beteiligungen an Bordellen zugesagt habe, diese Versprechen aber nicht eingehalten habe. "Der 'Wiener-Peter' hat mich hintergangen. Zuletzt prahlte er schon mit mir als Killer."

Als Max van Oosting nach knapp fünf Minuten mit Brötchen aus der Kantine wieder ins Vernehmungszimmer zurückkommt, sieht er, dass die Protokollantin auf ihrem Zettel nur den obligatorischen Einführungssatz stehen hat. "Na, was macht ihr hier eigentlich?", fragt er etwas provozierend in die Runde. Plötzlich wird es ganz ruhig. Er holt aus seinem Aktenkoffer einen Zettel, auf dem er sich die Fragen notiert hatte. Als er die erste Frage stellt, steht Pinzner plötzlich auf und hat eine Waffe in der Hand. "Das ist eine Geiselnahme", schreit er. "Wir haben drei Stunden, ihr geht raus." Van Oosting rasen drei Gedanken durch den Kopf. Ist die Waffe echt? Woher hat er die? Geiselnahme bedeutet Zeitgewinn und MEK! Er steht langsam auf, bezieht das "ihr geht raus" auf sich. Pinzner wird hektisch: "Du setzt dich wieder hin." Dass auch Bistry aufgestanden ist, hat er nicht bemerkt.

Dann fallen zwei Schüsse. Ein ohrenbetäubender Knall. Van Oosting nutzt den Moment und hechtet aus seinem Stuhl zur etwa zweieinhalb Meter entfernten Tür. Pinzner schießt hinterher, trifft nicht. Van Oosting rennt auf den Flur, schreit: "Achtung, Pinzner ist bewaffnet." Dann bemerkt er, dass auch sein Kollege heil aus dem Zimmer entkommen ist. Drinnen lässt Pinzner die beiden Frauen die Tür mit einem Schreibtisch von innen verbarrikadieren. Er ruft seine Tochter aus erster Ehe an. Sagt: "Birgit, ich liebe dich" und legt auf. Er sagt der Protokollantin, sie solle unter dem Tisch hervorkommen, und zwingt sie mit vorgehaltenem Revolver: "Du schaust zu." Jutta Pinzner kniet nieder. "Mucki" schießt ihr in den Mund. Dann setzt er sich daneben und bringt sich ebenfalls durch einen Schuss in den Mund um. Auf dem Flur trifft van Oosting die Anwältin und brüllt: "Na, da habt ihr uns ja schön gelinkt!"

Die Anwältin wird wegen Beihilfe zum Mord zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Sie hatte die Waffe besorgt, die Jutta Pinzner in ein Handtuch gewickelt in ihrem Slip ins Präsidium geschmuggelt und auf der Toilette in ihre Handtasche gesteckt hatte. Innensenator Rolf Lange und Justizsenatorin Eva Leithäuser müssen zurücktreten. 1989 werden der "Wiener-Peter", Armin H. und Siggi T. zu lebenslanger Haft verurteilt. Am 8. Februar 2000 wird der "Wiener-Peter" nach Österreich abgeschoben, ist wieder auf freiem Fuß. Genau wie die beiden anderen zu lebenslanger Haft Verurteilten, die heute unter einem anderen Namen in Deutschland leben. Einen Tag nach dem Blutbad, am 30. Juli 1986, stirbt Wolfgang Bistry an den Schussverletzungen. Er wird nur 40 Jahre alt. Im braunen Kuvert von Pinzner finden die Ermittler ein großes Foto des St.-Pauli-Killers. Darauf hat er geschrieben: "Ich werde noch mal hinlangen. Die Schweine haben mich ja so geflachst. Viele Grüße, Mucki."