Abendblatt-Redakteur Jens Meyer-Odewald fuhr eine Nacht lang mit Ralf Thomsen. Der ist eigentlich Lehrer - aber viel lieber unterwegs.

Hamburg. Noch eine knappe Stunde bis Mitternacht. Auf dem Kiez tobt das Partyleben im Discotakt. Wer jetzt aufbricht, ist ein armer Wicht. Gelegenheit für Ralf Thomsen, dreifach aufzutanken. Einen Moment Ruhe, bevor im Taxi die Kasse klingelt. Zweitens ganz real Diesel (mit Prozenten ...) und drittens, höchst persönlich, einen Kaffee. Aus dem Pappbecher, schön stark, nur mit einem Minischuss Dosenmilch. Für einen Euro gezapft an der Esso-Tanke Taubenstraße.

Thomsen inhaliert die frische Nachtluft, nimmt dann wieder Platz auf dem Bock, wie der Fahrersitz unter "Kutschern" genannt wird. Ein Klick im Cockpit, schon signalisiert die "Hungerleuchte" Tourbereitschaft. So bezeichnen die Fahrer das gelbe Schild auf dem Autodach. Am großteils torkelnden Partyvolk vorbei steuert der 49-Jährige seinen 32 000 Euro teuren Mercedes E 200 CDI in Richtung Große Freiheit. Mit Tempo 30, höchstens, und manchmal im Slalom. Denn kaum einer nimmt Rücksicht auf die Frauen und Männer in ihren beigefarbenen Wagen. Promille hat Vorgang.

Auf beiden Seiten der Reeperbahn kommt das Geschäft zusehends in Fahrt. Getreu der Faustregel: Bis 20 Uhr brummt's, bis die Leute im Theater, Kino, Restaurant oder bei ihrer Feier sind, danach schleicht der Umsatz. Zwischen Mitternacht und 3 Uhr früh ist Hochzeit; dann steigen die Einnahmen - im Einklang mit dem Fieber der Großstadtnacht. Zwischen 36 und 45 Prozent kassieren die "Kutscher". Klar muss versteuert werden, der Tipp jedoch ist netto. "Binnen weniger Stunden hat mancher mehr auf der Uhr als sonst an einem ganzen Tag auf dem Bock", weiß Thomsen. Obwohl, Silvester mal ausgeklammert, die Konkurrenz nie größer war als jetzt. Hatte die Allianz aus 44 10 11 und sechsmal die Sechs, mit fast 1100 Taxis bald 100 Jahre lang Platzhirsch in Hamburg, zum Start des Abends 500 Wagen im Einsatz, so sind es nun fast 800. Vom Autoruf-Hauptquartier am Grindelhof dirigieren Sandra und neun Kolleginnen die Touren.

Wobei das entnervende Quäken und Schnattern aus den Lautsprechern im Taxiinnern der Vergangenheit angehören. In der Neuzeit wird der Betrieb fast komplett digital abgewickelt. Ein Hightech-Gerät im Handyformat links am Armaturenbrett weist Thomsen und seinen Kollegen den Weg. Zeigt, wo wie viele Taxis an welchem Posten stehen und welche Funktouren auf Vermittlung warten. 218 Euro monatlich muss für diesen Service an die Zentrale abgedrückt werden. Nicht wenige verzichten auf diese Hilfe und brausen auf gut Glück und eigene Rechnung durch die Gegend. "Graupen" werden die Fahrer genannt, die von spontanen Stopps am Straßenrand leben und verstärkt an Bahnhöfen sowie am Flughafen vorzufinden sind. Thomsen hält inne. Vom Hamburger Berg her nähern sich zwei fröhliche Herrschaften, Pommes Schranke (Ketchup/Majo) in der rechten, Astra-Knollen in der linken Hand. "Jungs, bitte macht erst reinen Tisch", sagt Thomsen bestimmt. "Dann geht's los." Die Männer grunzen, gehorchen jedoch. Via Simon-von-Utrecht-Straße geht's gen Ottensen. Die Gäste sind gut drauf, reden über den HSV, benehmen sich ansonsten tadellos - und lassen sich beim Tipp schließlich nicht lumpen.

"Angst ist ein schlechter Wegbegleiter", weiß der Chauffeur aus langjähriger Erfahrung. Daran änderten auch Katastrophen wie der jüngste Mord an einem Taxifahrer in Nienstedten nichts. Der sorge zwar für Fassungslosigkeit und Entsetzen, habe aber keinen direkten Einfluss auf seinen Beruf. "Wenn die Angst mitfährt, spürt das der Fahrgast", weiß Ralf Thomsen. Er selbst sei bisher nur zweimal in die Bredouille geraten. Einmal nachts bei einem angetrunkenen, höchst aggressiven Beifahrer, der vor aufgestauter Wut unentwegt gegen das Armaturenbrett geschlagen habe. "Ich war ganz ruhig, habe mir nichts anmerken lassen und ihn nicht gereizt", erinnert er sich. Ein anderes Mal zog ein Passagier während der Fahrt ein Samurai-Schwert aus seinem Mantel und hantierte damit im Fond. Aus Provokation? Der Taxifahrer ließ die Situation nicht eskalieren, bewahrte Nerven, kassierte äußerlich ruhig ab - und atmete anschließend tief durch.

Zwar ist Ralf Thomsen von Haus aus Waldorf-Lehrer, doch ließ ihn die Faszination Taxi nach dem Studium nicht mehr los. Der Pädagoge begann als Aushilfe, wurde schließlich Festfahrer. 1993 folgte die Selbstständigkeit. Derzeit organisiert er von seinem Büro in Volksdorf aus einen Fuhrpark mit sieben Autos und 22 Fahrern, davon die Hälfte Aushilfen. Unter 70 Stunden pro Woche laufe bei ihm gar nichts. "Behördenirrsinn" inklusive - so müssen sämtliche Quittungen von zehn Jahren aufbewahrt werden. "Mit der Folge, dass neben meinem Bett mehrere Säcke lagern." Wenn Not am Mann ist, hüpft Thomsen selbst auf den Bock. Oder wenn der Rubel rollt. Über konkrete Zahlen spricht der Hanseat nicht so gerne.

Umso lieber über die Reize eines Berufs, der trotz aller Routine eine Menge Freiheit sowie ein kleines Glücksgefühl als moderner Vagabund beschere. "Für Romantik ist der Job zu hart", bilanziert Thomsen während eines Boxenstopps am Imbiss (Currywurst & Kaffee). "Aber es bringt so viel Spaß, dass ich nicht davon lassen kann und will." Drei- bis viermal wöchentlich sitzt der Boss am Steuer.

Die nächsten Touren führen ihn raus aus der City. Blutproben müssen ins Albertinen-Krankenhaus. Eine betagte, indes fidele Dame kommt dezent beschwipst vom Swutsch; zwei aufgetakelte Fregatten wollen zur Sause ins Herold-Center nach Norderstedt. Weitere Haltezeit plus Klönschnack: Fehlanzeige. Dafür wirken die Döntjes vom Schichtanfang nach. Als Ralf Thomsen bei einem Kaffee im Restaurant Eckhardt am Paul-Nevermann-Platz von den Sonnenzeiten seines Jobs berichtet. Von spannenden Gesprächen mit urigen Typen. Von einer nächtelangen Schachpartie mit einer lesbischen Kundin in St. Georg. Vom Kasino-Zocker, der 150 Euro Trinkgeld gab. Und von der Mitfahrerin, die länger blieb. Fünf Jahre unterm Strich.

Um 3.15 Uhr kann Thomsen erstmals wieder Luft holen. Nach entnervenden Wartezeiten zwischen 20 und 23 Uhr verging die anschließende Zeit wie im Fluge. "Fofftein!", sagt er - und betätigt den Hebel im Cockpit. Die "Hungerleuchte" auf dem Dach erlischt. Und jetzt nichts wie vom Bock ins Bett.