Immer weniger Hebammen holen Babys auf die Welt. Die Arbeit lohnt sich nicht mehr, weil die berufsbedingten Ausgaben zu hoch sind.

Sie stellt das Handy nie aus. Sie trägt es wie ein Cowboy seinen Colt am Gürtel und hat es immer in Griff-, zumindest jedoch in Hörweite. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. "Wenn der Monat 31 Tage hat, dann auch gerne mal 31 Tage im Monat", sagt sie. Ihr Freundeskreis und ihr Ehemann müssten bei der ständigen "Dienst- und Alarmbereitschaft" leidensfähig und verständnisvoll sein: "Kino- oder Theaterbesuche, Weinabende, Waldspaziergänge oder längere Fahrradtouren sind nur ganz selten drin. Ich kann jederzeit durch den Anruf einer werdenden Mutter, von denen ich immer ein paar gleichzeitig betreue, angerufen werden." Dann hechte sie ins Auto und hoffe, dass es keine Staus gibt und die Ampeln auf Grün stehen. Oft komme es auf Minuten an.

Dorothea Kluge, 51 Jahre alt, Brille, kurze Haare, im niedersächsischen Schwarmstedt in der Lüneburger Heide zu Hause, ist frei praktizierende Hebamme. "Hausgeburtshebamme", sagt sie lächelnd und prüft gleichzeitig, ob der Handyakku auch wirklich geladen ist, der Ersatz am richtigen Ort in der weinroten Hebammentasche liegt. Sie sitzt in der Wohnküche ihres kleinen Holzhauses am Waldrand, nippt am Kaffee und steckt das Mobiltelefon an den Gürtel. "Ich mache Geburtshilfe. Ich leiste mir den Luxus noch. Ich liebe diesen Beruf. Er ist für mich eigentlich der schönste überhaupt."

Kurz hält sie inne. Überlegt, schüttelt den Kopf, fährt sich mit der Hand durchs Haar und referiert plötzlich Betrübliches über ihren vermeintlichen Traumjob: Manchmal mache der Beruf sie auch unglücklich, schlage sie sich mit Zweifeln herum, grübele, ob sie tatsächlich Hebamme bleiben solle und ob sie es sich leisten könne, vor allem weiter Geburtshilfe anzubieten und jedes Jahr um die 20 Babys auf die Welt zu holen. Die meisten ihrer Kolleginnen praktizierten nur noch Geburtsvorbereitung und Nachsorge. "Richtig Babys zur Welt holen, das eigentliche Salz in der Suppe unseres Berufs, haben viele freien Hebammen bereits aus ihrem Angebotskatalog gestrichen, streichen müssen", klagt die Geburtshelferin. "Ich bin hier in den Landkreisen Soltau-Fallingbostel und Celle eine von ganz wenigen, die noch Babys holen. Meine Mission ist die Eins-zu-eins-Betreuung. Von der Schwangerschaft bis zum Abstillen."

"Doro", so nennen die meisten Klientinnen sie, hat in privaten Wohnungen oder Häusern, in Schlaf- oder Wohnzimmern bislang um die 420 Babys geholt. Sie würde am liebsten mindestens noch einmal so viele in ihren Händen halten. Doch sie glaubt, dass sie schon froh sein kann, wenn sie wenigstens noch dieses Jahr halbwegs von ihrem Beruf leben kann.

Resigniert berichtet sie von ihrem Arbeitsalltag: Freie Hebammen hätten es schwer im von Hightech, Sparzwang und Stress geprägten Gesundheitswesen. Sie würden mies bezahlt, bei Gesundheitsreformen schlicht übergangen. Zudem seien die Berufshaftpflichtbeiträge in den letzten Jahren "explodiert", ohne dass die Gebührensätze, die Krankenkassen für Hebammenleistungen ansetzen, adäquat gestiegen seien.

Die Hebammen-Berufsverordnungen und die Länder-Hebammengesetze verpflichten jede Geburtshelferin, sich "ausreichend gegen Haftpflichtansprüche aus der beruflichen Tätigkeit zu versichern" (Paragraf 8, Artikel 7 der Schleswig-Holsteinischen Berufsverordnung, Paragraf 9, Artikel 2 der Niedersächsischen).

Die meisten Versicherungen nehmen Geburtshebammen wegen des hohen Risikos jedoch gar nicht auf, bieten zu geringe Deckungssummen, verlangen horrende Prämienzahlungen oder drohen im Schadensfall gar mit sofortigem Rauswurf, was die weitere Berufsausübung gefährden würde.

Zahlten selbstständige Hebammen in Deutschland vor 30 Jahren durchschnittlich 60 Mark Haftpflichtprämien pro Jahr, waren es 2007 schon 1218 Euro, 2009 bereits 2370,48 Euro. Aktuell müssen selbstständige Hebammen, die Geburten managen und machen, bei der Bayerischen Versicherungskammer, mit der der Deutsche Hebammenverband (DHV) einen Gruppen-Versicherungsvertrag geschlossen hat, 3698 Euro pro Jahr für ihre Berufshaftpflicht bezahlen. Und das, wo sie bei Hausgeburten nur 548 Euro Honorar erhalten, als begleitende Hebamme für eine Geburt im Krankenhaus 237,85 Euro in Rechnung stellen dürfen, für Vor- und Nachsorgetermine 27 Euro. Bei einem zu versteuernden Jahres-Durchschnittseinkommen von 14 000 Euro kommt so manche Hebamme auf Stundenlöhne von sechs, sieben Euro brutto, können viele die Haftpflichtprämie nicht mehr aufbringen.

Die Hebammen wollen besser verdienen. 30 Prozent mehr. Anfang Mai rief der Deutsche Hebammenverband deshalb zu Streiks auf, wandte sich mit Petitionsschreiben an Krankenkassen und Bundesgesundheitsminister. Ergebnis: "Bislang Fehlanzeige", sagt Edith Wolber, Sprecherin vom DHV.

Geburtshilfe zu leisten sei für viele Hebammen nicht mehr finanzierbar. Die flächendeckende Versorgung durch Hebammenleistungen könne in manchen Regionen Deutschlands nicht mehr sichergestellt werden. Auf dem flachen Land herrsche mancherorts fast schon Notstand: "Viele Frauen, die lieber zu Hause entbinden würden, sind gezwungen, ins Krankenhaus zu gehen."

Kaiserschnitte und medikamentöse Geburtseinleitungen stiegen in den letzten Jahren rapide an. Die Kaiserschnittrate liegt in einigen Bundesländern bei 30 bis 50 Prozent, in manchen Großstadtkrankenhäusern bei 70 Prozent. Nur noch 6,7 Prozent aller Frauen in Deutschland bringen ihre Kinder ohne technische oder medizinische Eingriffe zur Welt.

"Beim DHV schrillen schon lange die Alarmsirenen", sagt Edith Wolber. "Uns liegt die Arbeit der Hebammen sehr wohl am Herzen. Wir wissen, dass sie im medizinischen Betrieb wichtig sind", insistiert Roland Jopp, Sprecher beim Bundesgesundheitsministerium. "Wir tun im Rahmen unserer Möglichkeiten alles, um die Hebammen zu unterstützen." Erst vor ein paar Wochen sei vom Ministerium eine Studie in Auftrag gegeben worden, die Einnahmen und Ausgaben der Hebammen unter die Lupe nehme und nun ein halbes Jahr laufen werde. Danach erfolge die Prüfung, wie das Ministerium auf die Probleme der Hebammen reagieren könne.

Dorothea Kluge tätschelt den Mischlingshund in der Diele ihres Hauses in der Lüneburger Heide und gibt ihrem Mann einen Abschiedskuss. "Ist der Wagen vollgetankt?", fragt sie ihn. "Wie immer", antwortet er. Die Hebamme wird heute wieder weite Strecken auf Niedersachsens Landstraßen fahren. 200, 300 Kilometer am Tag sind ebenso wie die 50- bis 70-Stunden-Woche keine Ausnahme.

Der rote VW Golf Diesel der Schwarmstedter Geburtshelferin ist bereits 380 000 Kilometer gelaufen. Am Rückspiegel baumelt kein Duftbäumchen, sondern ein Holzstorch mit rotem Schnabel. Die Hebamme fährt nach Celle zu einem Vorsorgetermin mit Meike, einer schwangeren Elektroingenieurin, die in einigen Monaten zu Hause entbinden möchte. Danach besucht sie im Krankenhaus Ute, die eigentlich auch zu Hause gebären wollte, aber das Kind kam einfach nicht. Dorothea Kluge hat die werdende Mutter noch rechtzeitig ins Krankenhaus gefahren. Das Baby ist gesund, die Mutter trotzdem traurig. "Weil es keine natürliche Geburt war", sagt sie. Es folgen fast 40 km Landstraße bis nach Hermannsburg, wo die nächste Klientin wohnt. Sie beugt sich im Bett schützend über ein Baby, während drei kleine Jungen sich an ihrem Fußende eine Kissenschlacht liefern.

Die mit einem Lehrer verheiratete Natalie, 36, Fotografin, lebt in einem Eigenheim mit großen Fenstern und gepflegtem Garten mit Blütenpracht und Obstbäumen. Drei rote Bobbycars parken in Reihe auf der Terrasse. Eines weniger, als Natalie Kinder hat. Doch der Jüngste ist ja noch so klein, er kann noch nicht mal krabbeln. Die vier Söhne von Natalie heißen Jona, Jarne, Rian und Keon. Der älteste ist sechs Jahre alt, der jüngste eine Woche. Alle sind zu Hause geboren. Bei allen Geburten war Dorothea Kluge die Hebamme.

"Auch wenn fast eine Stunde Autofahrt zwischen Doro und mir liegen und ich öfters wegen der Hebammenknappheit in dieser Gegend hier geflucht und manchmal auch gezittert habe, finde ich es wichtig, dass eine intime Geschichte wie die Geburt selbstbestimmt ist", sagt Natalie. "Ich möchte Leute um mich herum haben, die ich kenne, denen ich vertraue." In Kliniken seien Geburten Fließbandarbeit, werde zu schnell nachgeholfen. Das sei nichts für sie. Sie habe die Kinder ohne pharmazeutische Hilfe gebären wollen: "Es war gar nicht schwer. Es war schön."

Dorothea Kluge hört zu und tupft sich heimlich die Augen trocken. Sie ist gerührt. Man sieht, dass sie sich über das freut, was Natalie sagt. Dann wiegt sie Baby Keon, untersucht den Nabel, die winzigen Finger und Zehen, die Zunge, macht mit der Mutter Gymnastik, tastet den Bauch ab, gibt ihr Tipps und entzündungshemmende Salbe.

"So niedliche Jungen. Alle vier. Alle gesund und munter. Solche Hausbesuche sind die beste Medizin. Sie bestätigen mich darin, doch weiterzumachen mit der Geburtshilfe. Solange jedenfalls, wie ich es mir noch leisten kann", sagt Dorothea Kluge.

Wenn ihre Schwangeren entbinden, Renate Stüwe ist seit fast sechs Monaten nicht mehr dabei. Die 39-Jährige aus dem Dithmarscher Dorf Helse - zwischen Itzehoe und Heide gelegen - hatte im vergangenen Dezember ihre vorerst letzte Geburt. Schweren Herzens, sagt die Schleswig-Holsteinerin, vermisse sie das, weswegen sie eigentlich mal Hebamme geworden ist: "Das herrlich niedliche Quäken des Babys, wenn es die Welt erblickt und gesund ist. Die glücklichen, dankbaren Augen der Mutter, wenn die Tortur der Geburt geschafft, der Schmerz vergessen ist und das kleine Menschenkind auf ihrem Bauch liegt."

Im Durchschnitt habe sie jedes Jahr 25 Geburten gemacht. Als begleitende Hebamme im Krankenhaus oder als Hausgeburtshebamme: "Es war für mich immer der schönste medizinische Beruf, weil man auf ein freudiges Ereignis hinarbeitet. Auf das freudigste überhaupt. Daraus habe ich eine Menge Kraft geschöpft."

Sie könne sich nach der letzten Haftpflicht-Erhöhung im vergangenen Jahr die Geburtshilfe nun nicht mehr leisten, sagt sie. Es bleibe zu wenig Verdienst übrig. Sie macht jetzt nur noch Vor- und Nachsorge, Ernährungsberatung und Gymnastikkurse. Sie zahlt statt fast 4000 Euro nur noch 400 Euro für die Berufshaftpflicht. Ohne Geburtshilfe ist sie in der Risikogruppe von hoch auf gering gefallen.

Renate Stüwes Klientin Sabrina, 25, gelernte Bauzeichnerin aus Marne, hätte die Hebamme ihres Vertrauens, die sie durch die ganze Schwangerschaft begleitet hatte, gerne auch bei der Entbindung im Krankenhaus dabeigehabt, sagt sie. Sagen auch die anderen beiden jungen Mütter, die Renate Stüwe an diesem Tag besucht und die gerne zu Hause entbunden hätten. Doch Hausgeburten sind in diesem Teil Dithmarschens schon gar nicht mehr möglich, weil es weit und breit keine Hausgeburtshebamme mehr gibt. Renate Stüwe war die Einzige.

"Klar, ich kann heute mein Handy mal ausschalten, muss nicht mehr rund um die Uhr erreichbar sein. Aber ich vermisse diesen magischen Moment der Entbindung schon sehr", sagt die Ex-Geburtshelferin. Deshalb werde sie sich jetzt bei den Geburtsstationen in Heide und Itzehoe als fest angestellte Kreißsaal-Hebamme bewerben. Da sei sie zwischen all den medizinisch-technischen Geräten wohl zwar so etwas wie eine Geburtsmechatronikerin, "aber der Arbeitgeber übernimmt wenigstens die Haftpflicht".