Der schwere Lösungsmittel-Unfall in der TU Harburg wird Folgen haben. 13 Studenten und Uni-Mitarbeiter kamen auf die Intensivstation.

Harburg. Gingen die Studenten zu leichtsinnig mit höchst giftigen Chemikalien um? Wer ist dafür verantwortlich, dass der Notfallplan der Uni nicht griff? Wo ist das Leck im Sicherheitssystem? Diese Fragen stehen nach dem Giftunfall im Technikum der Technischen Universität (TU) Harburg im Fokus der polizeilichen Ermittlungen. Nachdem einer Studentin am Dienstagvormittag zwei Flaschen mit dem giftigen Lösungsmittel Acetonitril auf dem Boden zersprungen waren, hätte die Versuchshalle umgehend geschlossen und die Feuerwehr alarmiert werden müssen. So sieht es ein extra für Notfälle erarbeiteter Alarmplan vor.

Doch während die Studentin und vier weitere Personen, die zum Unglückszeitpunkt ebenfalls in der Versuchshalle waren, aus freien Stücken ein Krankenhaus aufsuchten, wurden die Feuerwehr erst sieben Stunden später informiert - obwohl eine Vergiftung mit Acetonitril tödlich enden kann. "Die vorgeschriebene Alarmkette wurde nicht eingehalten. Das hätte nicht passieren dürfen", sagte Rüdiger Bendlin, Sprecher der TU Harburg, und bestätigte damit Vorwürfe gegen die Hochschule. Das werde Konsequenzen haben. Beamte der Wasserschutzpolizei haben den Fall übernommen.

Zusammen mit drei Kommilitonen und einem promovierten wissenschaftlichen Mitarbeiter hatte die Studentin kurz vor dem Unfall in der 45 mal 17 Meter großen Halle experimentiert. Um bestimmte chemische Stoffe zu isolieren, benutzten sie Acetonitril. "Das ist in der chemischen Analytik ein häufig verwendetes Mittel", so Bendlin. Und: Alle Studenten hätten zuvor die für solche Experimente erforderlichen Sicherheitsschulungen besucht.

Dennoch passierte gegen 11.30 Uhr das, was nicht hätte passieren dürfen: Beim Aufräumen fielen der Studentin zwei Vier-Liter-Flaschen mit dem Lösungsmittel herunter, als sie die Gläser in einen Schrank stellen wollte. Die Flaschen zerschellten auf dem Boden. Lösungsmittel durchnässte Hose und Schuhe der jungen Frau. Die fünf Anwesenden verkannten die Situation: Während ein Großteil des Lösungsmittels verdampfte, wischten sie den Rest weg - ohne groß nachzudenken.

Das Vergiftungsrisiko erkannten sie erst nach Rücksprache mit ihrem Professor, der sie unverzüglich in die Asklepios-Klinik Harburg schickte. Knapp eine Stunde nach dem Unfall kamen die fünf auf die kardiologische Intensivstation, Entgiftungstherapien wurden vorbereitet. Trotzdem dauerte es noch fast sieben Stunden, bis die Feuerwehr von dem Notfall erfuhr - aus der Klinik und nicht aus der Uni. Bis zu 30 Personen betraten in dieser Zeit das Technikum der TU, ohne zu ahnen, welcher Gefahr sie sich aussetzten. Acht wurden später ebenfalls vorsorglich ins Krankenhaus eingeliefert.

Als die Meldung vom Chemie-Unfall gegen 19.22 Uhr den Lagedienst der Feuerwehr erreichte, leiteten die Disponenten sofort Großalarm ein: Mehrere Züge der Berufsfeuerwehr eilten nach Harburg. Mehr als sieben Stunden waren 50 Feuerwehrmänner in Chemikalienschutzanzügen mit der Reinigung der kontaminierten Räume beschäftigt.

"Acetonitril ist ein gängiges Lösungsmittel, das in hoher Konzentration schädlich ist", sagte Professor Jai-Wun Park, Chefarzt an der Asklepios-Klinik Harburg, gestern. Je nach Stoffwechsel können sich bei einer Aufnahme über die Haut oder beim Inhalieren Cyanide im Körper bilden. Diese verhindern, dass Sauerstoff durch das Hämoglobin in den roten Blutkörperchen gebunden werde. Es komme zu Sauerstoffmangel. Die Folgen: Störungen im Nerven- und Atmungssystem, die bis zum Tod führen können. "Man kann wohl von Glück reden, dass der Raum, in dem dieses Lösungsmittel verdampfte, sehr groß ist", sagte Park.

Die fünf direkt betroffenen Personen und die acht später eingelieferten hätten sehr wahrscheinlich weitaus stärkere Verletzungen davongetragen, hätte sich der Stoff nicht so schnell verflüchtigt. So stellten die Ärzte nur bei der Studentin leichte Krankheitssymptome fest, deren Haut mit der Flüssigkeit in Kontakt kam: Wenige Stunden nach dem Unglück registrierten die Ärzte bei ihr für etwa fünf Minuten Bewusstseinsstörungen. Dass es letztlich bei Bewusstseinsstörungen bei nur einer Patientin blieb, sei sicher auch der Tatsache geschuldet, dass sich alle fünf an dem Unfall Beteiligten innerhalb nur einer Stunde in der Harburger Klinik meldeten und sofort behandelt wurden. "Wir haben die Behandlung auf den Worst Case ausgelegt", sagte Park - den schlimmsten anzunehmenden Fall. "Sie haben die volle medizinische Breitseite abbekommen."