In der Hamburger Supermarkt-Gruppe rumort es kräftig. Die Händler sehen sich durch die aggressive Billigtochter in ihrer Existenz bedroht.

Hamburg. Carsten Koch hat sich große Hoffnungen gemacht: Rund 700 000 Euro hat der Kaufmann in den Ausbau seines Edeka-Markts im niedersächsischen Wrestedt gesteckt. Er hat seine Ladenfläche erweitert und eine besonders große Obst- und Gemüseecke geschaffen, um den Kunden in dem 3000-Einwohner-Ort in der Nähe von Uelzen ein möglichst umfangreiches Angebot machen zu können.

Doch nun steht der 42 Jahre alte Lebensmittelhändler vor einem riesigen Problem: Direkt neben seinem Supermarkt entsteht nämlich eine neue Filiale der Billigkette Netto Marken-Discount. Die bietet ein ähnliches Sortiment wie Edeka an und lockt zudem mit Kampfpreisen für Markenprodukte. "Dieser neue Konkurrent wird mich 30 bis 50 Prozent meines Umsatzes kosten", sagt Koch dem Abendblatt. "Das ist existenzbedrohend."

Das Absurde an der Geschichte: Kochs Konkurrent kommt aus dem eigenen Haus. Netto ist die expansionshungrige Billigtochter der Hamburger Edeka-Gruppe. Der zweitgrößte deutsche Discounter (rund 4000 Filialen) hinter Aldi (etwa 4300) will allein in diesem Jahr 250 neue Läden in Deutschland eröffnen. Mittelfristig sieht Edeka-Chef Markus Mosa sogar Potenzial für bis zu 1000 neue Geschäfte, sagte er im Frühjahr auf der Bilanzpressekonferenz in der Hansestadt.

Doch diese aggressive Wachstumsstrategie stößt mittlerweile bei immer mehr selbstständigen Kaufleuten der Gruppe auf Widerstand. Nach Erkenntnissen des Fachblatts "Lebensmittelzeitung" muss Chef Mosa nahezu wöchentlich Briefe von empörten Edekanern beantworten, die sich über das Geschäftsgebaren von Netto beschweren.

Auch Carsten Koch hat Mosa schon einen Brief geschickt, in dem er sich bitter über die Konkurrenz in seiner unmittelbaren Nachbarschaft beklagt. "Ich kann die Strategie von Edeka einfach nicht verstehen", sagt er. Bevor er in die Modernisierung seines Marktes investierte, habe er sich sogar noch erkundigt, ob die Eröffnung eines weiteren Geschäfts geplant sei. "Das wurde verneint. Und nun setzt man mir diese neue Netto-Filiale direkt vor die Nase."

Der hessische Edeka-Händler Thorsten Hellwig hält Netto ebenfalls für eine "ernsthafte Bedrohung" der eigenen Kaufleute. Der streitbare Kaufmann ist ein echtes Schwergewicht unter den Edekanern, mit 14 Filialen und einem Jahresumsatz von 80 Millionen Euro ist er nach eigenen Angaben der umsatzstärkste Selbstständige in der Region Hessenring.

"Edeka schaufelt sich mit der aggressiven Expansion von Netto das eigene Grab", sagt Hellwig dem Abendblatt. Er selbst wird demnächst in Thüringen zusätzliche Konkurrenz von der Kette bekommen - und das, obwohl es in der Nähe seines dortigen Marktes bereits eine Netto-Filiale gibt. "Das wird mich vermutlich eine Million Euro an Umsatz kosten", sagt er.

Für Hellwig ist ein Netto-Markt sogar schlimmer als andere Discounter. "Mit Aldi pflegen wir eine gute Nachbarschaft, weil dieses Unternehmen für zusätzliche Kunden sorgt und sich die Sortimente nur bedingt überschneiden", sagt er. "Bei Netto sieht das aufgrund des hohen Anteils von Markenartikeln leider ganz anders aus."

Wegen seiner offenen Worte hat Hellwig nun Ärger mit seiner zuständigen Regionalgesellschaft. "Die haben mir sogar mit Rauswurf gedroht, ich lasse mich aber nicht mundtot machen", sagt er. "Es brodelt in der Gruppe."

Auch in Hamburg stufen viele Edeka-Händler die schnelle Expansion der Discount-Tochter als problematisch ein, wollen sich aus Sorge vor einem Streit mit der Unternehmensspitze aber nur hinter vorgehaltener Hand äußern. "5000 Netto-Märkte sind eindeutig zu viel", sagt ein großer Hamburger Händler. "Das grenzt schon an Größenwahn." Konkrete Konflikte zwischen Edeka und Netto gibt es in der Hansestadt bislang zwar noch nicht, doch auch hier ist die Billigkette auf dem Vormarsch. So wird Netto heute in Harburg an der Cuxhavener Straße einen neuen Markt eröffnen, in Rahlstedt soll Mitte Juli ein weiteres Geschäft hinzukommen. 40 Filialen des Discounters stehen dann rund 135 Edeka-Geschäften gegenüber.

Edeka-Chef Markus Mosa wollte sich auf Abendblatt-Anfrage nicht zu dem Streit in den eigenen Reihen äußern. Man führe den Dialog mit den betroffenen Kaufleuten intern und nicht in der Öffentlichkeit, teilte ein Sprecher in einer kurzen, schriftlichen Stellungnahme mit. Die kritischen Stimmen aus Niedersachsen und Hessen werden in der Zentrale eher als Einzelmeinungen eingestuft.

Generell gilt die Expansion von Netto in der Edeka-Spitze als große Erfolgsgeschichte. Durch die Übernahme des Konkurrenten Plus mit seinen 2300 Filialen war Netto 2009 quasi über Nacht zu einer bedeutenden Größe im deutschen Discount-Geschäft aufgestiegen. Im vergangenen Jahr steigerte die Billigtochter ihren Umsatz um 4,3 Prozent auf 10,4 Milliarden Euro und trug entscheidend dazu bei, dass die Edeka-Gruppe ihre führende Stellung im deutschen Lebensmittelhandel weiter ausbauen konnte.

Aus Sicht der Zentrale profitieren von dieser Entwicklung auch die selbstständigen Einzelhändler, weil die immer größere Einkaufsmacht der gesamten Gruppe dafür sorgt, dass sich bessere Preise etwa in den Verhandlungen mit Bauern oder der Lebensmittelindustrie durchsetzen lassen. Bei der Vorstellung der Bilanz für 2010 hatte Chef Mosa unter anderem darauf verwiesen, dass die Umsatzrendite der selbstständigen Händler leicht auf 4,16 Prozent gestiegen war.

Carsten Koch können solche Zahlenspiele allerdings nur wenig trösten. Für ihn beginnt mit der Eröffnung des neuen Netto-Markts in seiner Nachbarschaft der Überlebenskampf. "Edeka wendet sich gegen jene Händler, die die Gruppe einst groß gemacht haben", sagt er verbittert.