Evangelischer Kirchentag in Dresden ist politischer denn je

Als die Macher des evangelischen Kirchentags vor Monaten das Motto für das größte protestantische Laientreffen ausgaben, konnten sie nicht ahnen, dass sie damit so den Nerv treffen würden. "Da wird auch dein Herz sein", die Losung stammt aus der Bergpredigt. Das passt immer, aber dieses Mal eben besonders. Ausgerechnet ins atheistische Dresden sind mehr Christen gekommen als seit Jahren. Zudem entwickeln die großen gesellschaftlichen Kontroversen - Atomausstieg, Frieden, Globalisierung, Integration - gerade neues Identitätsstiftungspotenzial. Für den Kirchentag, von jeher auch eine Plattform für freie Gedanken und neue Lösungsansätze, der perfekte Nährboden. Nach Jahren der Beliebigkeit widerlegt das Glaubensfest das Klischee, nur noch eine Heile-Welt-Veranstaltung deutschen Gutmenschentums zu sein. Er ist politischer denn je.

Entsprechend selbstbewusst präsentiert sich der deutsche Protestantismus in diesen Tagen als moralische Instanz. Vor allem die Themen Friedensethik und Auslandseinsätze der Bundeswehr bestimmen nach den neuerlichen Anschlägen in Afghanistan auf Bundeswehrsoldaten die Debatten. Ungewöhnlich scharf kritisierte etwa der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider, die Reformpläne des Bundesverteidigungsministers. Seine wegen einer Alkoholfahrt zurückgetretene Vorgängerin Margot Käßmann, deren Kriegskritik "Nichts ist gut in Afghanistan" im vergangenen Jahr noch Entrüstung auslöste, wurde gefeiert wie ein Popstar. Beten allein hilft nicht, das ist auch eine Botschaft dieses Kirchentages. "Einmischen" lautet die Devise.

Das klingt nach Aufbruch. Allerdings ist es realitätsfremd zu glauben, evangelische Kirchentage seien Wegweiser für die Entwicklung der Konfession. Wenn das Fest vorbei ist, kommen die Niederungen des Alltags. Und das bedeutet: Sinkende Mitgliedszahlen, weniger Geld in den Kirchenkassen, kurz: weiter schwindender Einfluss in einer zuweilen sehr religionsfernen Welt. Deshalb ist es zwar gut und verständlich, sich an dem Dresdener Erfolg zu freuen. Die Aufgabe aber muss lauten, den Schwung des Kirchentags zu nutzen. Es geht um Glaubwürdigkeit und Verantwortung, aber eben auch um Spiritualität und Frömmigkeit. Nur wenn die Kirche diesen Spagat schafft, wird sie lebendig bleiben. Nicht nur für die, die schon dabei sein, sondern auch für die Sinnsucher, die Traurigen, die Erschöpften, die vielleicht zum ersten Mal nach Antworten suchen.