Volkssänger Jochen Wiegandt freut sich über die Resonanz: “Das hat alle meine Erwartungen übertroffen!“ Jezt beginnt die eigentliche Arbeit.

Hamburg. Jochen Wiegandt ist regelrecht überwältigt. Die große Resonanz auf "Singen Sie Hamburgisch?", die gemeinsame Aktion von NDR 90,3, dem "Hamburg Journal" und dem Hamburger Abendblatt hat den Volkssänger völlig überrascht. "Das hat alle meine Erwartungen übertroffen", sagt der Liedersammler.

"Mehr als 100 Einsendungen von den Lesern und den Hörern schon in den ersten Tagen, das zeigt, was für musikalische Schätze zu Hause bei den Hamburgern schlummern", sagt Jochen Wiegandt. Textfragmente, Verse, einzelne Strophen und komplette Lieder sind bei dem Hamburger eingegangen. Manchmal mit, manchmal ohne Melodie - in Form von Briefen oder E-Mails. Oder gleich als Anruf, bei dem dann die musikalische Erinnerung direkt auf Band gesungen wurde.

Schon jetzt ist klar, dass unter den Einsendungen ganz viele Stücke sind, die genau im Sinne des Erfinders sind. Denn Jochen Wiegandt ist auf der Suche nach altem Liedgut aus Hamburg, das für immer verloren wäre, gäbe es nicht einen wie ihn. Einer, der an den großen und den kleinen Geschichten interessiert ist. Einer, der die Menschen wieder zum gemeinsamen Singen ermuntern will, "weil das der Seele so gut tut", wie Wiegandt sagt.

Jochen Wiegandt sucht unbekannte Kinderlieder oder alte Songs aus dem Hafen, Stücke aus den Stadtteilen oder aus dem Schrebergarten. Vorgesungen von den Großeltern, von Vater oder Mutter, von Kollegen oder Nachbarn.

Und er hat genau das bekommen. Zum Beispiel von Abendblatt-Leserin Hilde Dölling. Sie schickte Zeilen eines Liedes, das "immer auf einem Schreberfest in Tonndorf" gesungen wurde, als sie ein kleines Mädchen war. "Leider bekomme ich den Text nicht mehr zusammen", schrieb sie. In Erinnerung geblieben ist ihr: "Sünndags morgens um Klock fiev, dann kommt de Schreber mit Kinner und mit Wief. Und mit Hack und Schüffel hebt he de Katüffel ut sin Schreberland. Und wenn de Vadder und de Mudder dat nicht sücht, Waddeln ward sick holt, Arfen ward utpoolt und de lüttje Deern plückt Johannisbeern."

An die Melodie kann sich die 83-Jährige nicht mehr erinnern, aber vielleicht gibt es ja noch jemanden, der das Lied, das noch weitere Strophen gehabt haben soll, kennt. "Ich würde mich riesig freuen, wenn das Lied in ihrer Aktion in ganzer Länge auftaucht und veröffentlicht wird", sagt sie.

Inge Iwan hat eine musikalische Erinnerung eingeschickt, die "etwa aus meinem 4. Lebensjahr" stammt. "Wenn ich manchmal ein bisschen quengelig war und nicht ins Bett wollte, dann fasste meine Mutter mich an beiden Händen", schreibt sie. "Und dann ging's mit Gesang im Nachstellschritt den Flur entlang, bei der letzten Zeile flog ich dann aufs Oberbett - und es war wieder eitel gute Laune." Zur Melodie von "Siehste wohl, da kimmt er, große Schritte nimmt er, graue Haare hat er schon, der verliebte Schwiegersohn", hatte ihre Mutter gesungen: "Gestern Abend um achte/ kam der Storch und brachte/ unserer Mutter einen Sohn/ und der Bengel lachte schon. Legt ihn in die Wiege/ meckert wie ne Ziege/ legt ihn auf das Oberbett/ oh, wie ist der Bengel fett." Es ist der bisher älteste musikalische Schatz, der ausgegraben wurde. "Ich bin Jahrgang 1921", schreibt Inge Iwan, "das Verslein und ich - wir sind also schon recht alt."

Ellen Wallach ist spontan ein Lied eingefallen, das "meine Mutter, Jahrgang 1909, manchmal gesungen hat und das ich in keinem Liederbuch finde". Sie kennt zwar die Melodie, kann sie aber nicht in Noten wiedergeben. "In Hamburg ist's geschehen, da hat der Kapitän sie mitten in der Nacht sich mit an Bord gebracht! Er schaut sie zärtlich an, was man verstehen kann, doch sie sprach nicht ein Wort bei ihm an Bord! Da aber nahm er sie mit hinunter, denn es wurde ihm zu dumm, und er umschlang sie, stürzte sie runter: Die ganze Buddel Rum!"

Abendblatt-Leserin Inge Quast bekam "ihr Lied vor etwa 70 Jahren in einem Gartenlokal von einem Mann geschenkt, der mit seinen Freunden Vatertag feierte". Nach der Melodie von "Wo de Nordseewellen trecken" heißt es in einer Strophe: "Kennt ji nich de scheune Stadt am Eibestrand, wo de Michel kiekt so stolz in't wiede Land, wo umkränzt de Alster, rings von greune Goarn? Jo, dat is mien Hamborg, dor bün ick geborn!" "Der Verfasser ist unbekannt", schreibt Inge Quast, "der Text ist allein nach dem Gehör aufgeschrieben."

Für Jochen Wiegandt beginnt jetzt erst die eigentliche Arbeit, nämlich "den Geschichten und Melodien nachzuspüren und herauszufinden, was für einen musikalischen Schatz wir da in den Händen halten."