Menschen, die in der Stadt leben, entdecken die Lust aufs Land. Sie pachten Beete, buddeln in der Erde und freuen sich auf die Ernte.

Hamburg. Das Gemüsebeet von Tim Mälzer erkennt man an den hohen Gräsern. Der ganze Acker sieht jetzt nach dem Winter aus wie eine Wiese, doch dort, wo der Spitzenkoch sein Beet hat, wächst das Unkraut besonders hoch. "Im Sommer war das Beet so zugewuchert, dass man das Gemüse gar nicht mehr gesehen hat, da haben sogar Rebhühner drin genistet", sagt Jule Vickery und lacht.

Die 38-Jährige hat die Initiative Erntezeit gegründet und verpachtet Gemüsebeete, frisch gepflügt und eingesät. Tim Mälzer war im vergangenen Jahr einer ihrer ersten 60 Pächter. Mittlerweile haben sich so viele Hamburger bei ihr gemeldet, dass sie in diesem Jahr mehr als 200 Beete in Appen, Fischbek und Lüneburg anlegen will. Die Pächter müssen nur noch ernten - und Unkraut zupfen. Das hat Tim Mälzer im vergangenen Frühjahr versäumt.

"Unser Beet war erst auch ein Dschungel, aber ab dem Sommer haben wir jede Woche einen Wäschekorb Gemüse geerntet", sagt Miriam Holzapfel-Groothuis. Die 36 Jahre alte Kulturwissenschaftlerin wohnt mit ihrem Mann Rainer, Sohn Aaron, 10, und Tochter Polly, 3, in Ottensen, eine halbe Stunde Autofahrt von ihrem Gemüsegarten in Appen entfernt. An diesem Tag ist die Familie gekommen, um beim Pflügen des Ackers zuzusehen. Peter Schuster vom Oldtimer Traktoren Verband ist aus Heede mit dem historischen Trecker angerückt, um das Feld zu bearbeiten, und die Kinder dürfen hinten auf dem Traktor mitfahren. "Aaron und Polly sind richtige Stadtkinder, für sie ist das hier alles ein Erlebnis", sagt Miriam Holzapfel-Groothuis. "Das Tollste ist die Kartoffelernte, man steckt die Hände in den Boden, und da ist was, das ist wie eine Schatzsuche."

160 Euro zahlt die Familie für das 25 Meter lange Beet pro Jahr. Mindestens den doppelten Betrag sei das geerntete Gemüse wert, sagt Jule Vickery. Den meisten Hobbygärtnern geht es aber gar nicht um die Ernte. "Jeder Besuch hier ist wie ein Kurzurlaub", sagt Sabine Buhk aus St. Pauli. "Man kommt einfach mal aus der Stadt raus, hat hier einen Anlaufpunkt." Das Gärtnern mit den Kindern Fritzi, 3, und Fiete, 7, verbindet Sabine Buhk mit dem Baden im nahen Baggersee, Picknick auf der Wiese neben dem Acker oder Ponyreiten auf dem Schäferhof, zu dem der Acker gehört. "Welches Hamburger Kind kann schon von sich behaupten, beim Pflügen auf dem Trecker gesessen zu haben?", fragt die junge Mutter.

Die sechs Jahre alte Aurelia aus Blankenese klettert stolz von dem roten Oldtimer herunter. Ihre Freundin Alva wartet schon auf sie - mit einer riesigen Pastinake in der Hand, die sie gerade ausgebuddelt hat. Bei der Bestimmung der Wurzeln und Kräuter ist Jule Vickery gerne behilflich. Sie schreibt den Pächtern auch regelmäßig per E-Mail, was gerade geerntet werden kann. 25 unterschiedliche Kräuter und Gemüsesorten, wie Petersilie, Rote Bete, Mangold, Dill, Basilikum, Rucola, Bohnen, Kürbis und Zucchini wachsen auf jedem Beet.

Zwölf Hektar ist der Acker in Appen groß. Wenn Peter Schuster die Fläche gepflügt hat, sät Jule Vickery das Gemüse in langen Reihen. In der Mitte wird ein Weg angelegt und von dort aus alle zwei Meter ein Beet abgesteckt, sodass die Gärten quer zu den Reihen verlaufen und jeder von allen 25 Sorten einen zwei Meter breiten Streifen bekommt. Vier Reihen pro Beet bleiben frei, hier dürfen die Pächter selbst säen.

Samentütchen aus dem Supermarkt sind allerdings streng verboten. "Bei uns werden weder gebeiztes Saatgut noch Hybride oder gentechnisch manipuliertes Material verwendet", sagt Vickery. "Das ist auch ein politisches Statement." Sie kauft die Samen bei der Bingenheimer Saatgut AG oder bei Dreschflegel, einem Verbund von Gärtnereien, die Saatgut alter Sorten anbieten.

Florian Schwanert, Carolin Lütt, Jasmin Miletic und Rafael Meyer aus Bahrenfeld und Ottensen ist der ökologische Anbau wichtig. Die vier haben sich zu einer Gemüsebeet-Gemeinschaft zusammengeschlossen. "Früher waren wir Nachbarn und haben zusammen eine Ökokiste abonniert, also Obst und Gemüse nach Hause geliefert bekommen", sagt Schwanert. "Jetzt probieren wir mal, unser Gemüse selbst zu ziehen." Der 30 Jahre alte Jurist will in Zukunft nach Feierabend zum Beet radeln und freut sich jetzt schon auf die vielen Kohlsorten.

"Die Leute hier schmunzeln schon über die spinnerten Städter, aber das ist mir egal", sagt Sabine Buhk. Raphael Tarrach aus Blankenese, der Vater der kleinen Aurelia, wurde in Appen gleich als Städter erkannt und zum Acker geschickt, bevor er überhaupt nach dem Weg fragen konnte. Seine Tochter hat schon wieder etwas Neues entdeckt. "Ich hab Sauerampfer gegessen", ruft sie. Ihr Papa staunt darüber nicht schlecht, denn die Kleine mag eigentlich kein Gemüse. "Das ist dann das zweite Grünzeug, das sie isst", sagt Tarrach. Grund genug, sich auch ein Beet zu sichern, findet der EDV-Spezialist. Er wird sich zunächst mit der Warteliste begnügen müssen, denn in Appen sind alle 130 Beete schon verpachtet - an Fotografen, Verleger, Ingenieure, Lehrer, Künstler, Polizisten. "Es gibt kaum einen Beruf, der bei uns nicht vertreten ist", sagt Jule Vickery.

Torsten Ostmann ist einer der wenigen Gemüsegärtner, der nicht aus Hamburg, sondern aus Pinneberg kommt. Eigentlich wollte er, dass seine Söhne Tim, 5, und Ole, 1, hier etwas über Gemüseanbau lernen, doch die erste Lektion ging an ihn. "Ich wusste wirklich nicht, dass man Kartoffeln pflanzt, indem man Kartoffeln in die Erde steckt", sagt er und grinst. Von den Umstehenden lacht ihn niemand aus - anscheinend war die Kartoffelzucht bislang für viele ein Geheimnis.

Die Idee, Gemüsebeete an Städter zu vermieten, hat Jule Vickery aus Hessen mitgebracht. Dort hatte sie an einem ähnlichen Projekt der Universität Kassel teilgenommen. "In Österreich gibt es das aber schon viel länger", sagt sie. Auch in Berlin ist das Prinzip "Wir pflanzen, Sie ernten" beliebt. Gleich zwei Firmen bieten Gemüsegärten-Projekte an, die Wartelisten sind lang. Und bei der bundesweiten Aktion "Meine Ernte" kann man Mini-Äcker in Bielefeld, Bochum, Hannover, Köln, Frankfurt und neun anderen Städten pachten.

Jule Vickery hat das Hamburger Projekt Erntezeit aus eigenem Antrieb gegründet, die Organisation betreibt sie freiberuflich. "Wenn man überlegt, wie viel Zeit ich hier reinstecke, rechnet sich das finanziell eigentlich nicht, aber die Arbeit macht mir viel Spaß", sagt sie. Unterstützt wird die dreifache Mutter von ihrem Mann Henry, der als Controller arbeitet. An diesem Tag ist er nicht dabei, weil er auf dem Acker in Fischbek einen Zaun setzen muss. Dort sind noch 30 Gemüsebeete zu vergeben, in Lüneburg 50. "Ich würde gerne noch im Norden von Hamburg Gemüsebeete anlegen, aber bis jetzt habe ich keinen Acker gefunden", sagt Jule Vickery. Rund 40 Absagen kassierte sie, bis sie den Acker in Appen fand. Viele Bauern hätten kein Interesse daran, dass am Wochenende Leute aus der Stadt auf ihrem Land herumliefen. "Schade, die Nachfrage wäre da", sagt sie.