In den letzten Monaten haben die Gutbürgerlichen den Schauplatz der Politik betreten, zunächst als Wutbürger gegen Stuttgart 21 und dann als Angstbürger gegen Atomkraft. Bei Lichte betrachtet handelt es sich um einen Luxusprotest, der nicht von Betroffenen getragen wird, sondern von Menschen, die durch die Betroffenheit anderer betroffen sind. Wenn man nach dem harten Kern dieser "Wut, Trauer und Betroffenheit" sucht, stößt man auf ein spezifisch modernes Problem: Wir sind abhängig von technischen Systemen, die so komplex sind, dass wir ihre zukünftige Entwicklung nicht berechnen können. Und das macht Angst.

Alles, was undurchschaubar ist, verunsichert. Deshalb kann man sich nicht vorstellen, dass ein führender Politiker jemals den Mut zur Wahrheit haben könnte und seinen Wählern sagte: Wir haben die Technik nicht in der Hand, aber wir können auch nicht aus ihr "aussteigen". Risiko, das ist die Welt der Wahrscheinlichkeitsstatistik, der Unsicherheit, des Zufalls und der Chance. Und deshalb akzeptieren die meisten Menschen auch nur solche Risiken, für die sie selbst unmittelbar verantwortlich sind - Rauchen etwa, oder Tempo 200 auf der Autobahn.

Die großen Entscheidungen der Politik beurteilen wir stattdessen als Gefahren, gegen die die Opposition dann Sicherheit verspricht. Man muss nur ein dramatisches Bild des möglichen Schadens zeichnen, um jedes Risiko-Kalkül zu blockieren. Die Angst vor der Katastrophe lässt sich nichts vorrechnen.

Die Deutschen sind die Avantgarde der Angst. In unserem Verhältnis zur Technik sind wir auf dem Rückweg vom Risiko zum Tabu, das heißt von einem rationalen zu einem magischen Verhalten. Das zeigt sich sehr deutlich am Vorsorgeprinzip, dem sogenannten Precautionary Principle. Es geht hier um die Gefahr der noch unerkannten Gefahr, mit der eine Politik der Angst die technologische Entwicklung lähmen will. Unterstützt wird sie dabei von einer medialen Angstindustrie, die in Fernsehen und Nachrichtenmagazinen die Apokalypse als Ware verkauft. Katastrophe ist der inflationär gebrauchte journalistische Begriff für Risiko. Und im Sensationsjournalismus genügt der Größte Anzunehmende Unfall längst nicht mehr; es muss schon der Super-GAU sein.

Nun ist unsere Bundeskanzlerin von Haus aus ja Physikerin, hat in der Atomdebatte also durchaus einigen Sachverstand und ist ohnehin ein durch und durch rationaler Mensch. Sie hat rasch erkannt, dass man gegen Angst keine Politik machen kann. Ihre Idee eines Moratoriums war der vernünftige Versuch, Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, um in dieser Schicksalsfrage unseres Landes eine Politik mit Augenmaß zu ermöglichen. Das Moratorium sollte eine aus der Panik geborene Tabuisierung der Atomkraft verhindern. Denn Tabu heißt: nicht denken. Und hier hätten sich gerade die so arg gebeutelten Liberalen als Stimme der Vernunft profilieren können. Stattdessen haben sie ins Chorheulen der Betroffenheit eingestimmt und sich sogar um den Spitzenplatz in der Ökumene der Ängstlichen beworben. Christian Lindner, der Generalsekretär und die letzte Hoffnung der FDP, hat hier seinen ersten politischen Fehler gemacht.

Eine vernünftige Diskussion müsste mit der Sonderstellung der deutschen Angst beginnen. Erinnern wir uns: Nach Tschernobyl ging in Freiburg die Welt unter, während wenige Kilometer weiter, hinter der französischen Grenze, das Leben seinen gewohnten Lauf nahm. Und auch heute ist die deutsche Reaktion auf Fukushima singulär. Sind nur wir die Schriftkundigen, die das Menetekel lesen können? Sind die anderen alle Analphabeten der modernen Technik? Wird die "German Angst" zum Exportschlager, oder lernen wir vom Rest der Welt Gelassenheit?

Es gibt hier durchaus Anzeichen für Optimismus. In Baden-Württemberg haben die Grünen die Macht übernommen, aber es sind die pragmatischen, wirtschaftsorientierten Grünen, nicht die umweltreligiösen Fundamentalisten, die in Berlin die Talkshows dominieren. Die interessanteste Farbe im politischen Spektrum ist das harte Grün einer neuen Bürgerlichkeit, und man darf vermuten, dass es sich auf Dauer mit dem Schwarz einer Merkel-CDU besser verträgt, als mit dem Rot einer SPD, für die sich die moderne Gesellschaft immer noch im Leben eines Hartz-IV-Empfängers spiegelt.