Die Krise ist überwunden, die Kurzarbeit beendet. Der Konzern investiert 35 Millionen Euro in den Standort und setzt auf Qualitätsprodukte.

Hamburg. Die Hitze von 1600 Grad lässt sich noch in 20, 30 Meter Abstand spüren. Hellgelbe Funken schlagen aus dem Schmelztopf und blenden die Augen. Wie überdimensionale Finger ragen drei Elektroden von oben durch den stählernen Deckel in den Topf hinein. Jede von ihnen schickt Starkstrom in den dort eingefüllten, zerkleinerten Schrott. Unter 75 000 Ampere werden die Stücke zu flüssigem Eisen. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Ständig fließt Schlacke wie aus einer überlaufenden Schüssel aus dem Schmelztopf ab. Schließlich brodeln 140 Tonnen Rohstahl in dem Tiegel mit sieben Meter Durchmesser. So viel schafft der Lichtbogenofen, das Kernstück des Hamburger Stahlwerks pro Stunde. Jetzt bleiben noch wenige Minuten bis zum Abstich. Das Gefäß, das die Charge aufnehmen wird, steht unter dem Ofen bereit. Pfanne nennen die Stahlwerker den Behälter, der einem riesigen, nach unten verlängerten Blumentopf ähnelt. Bevor Schmelzmeister Torsten Mohrbach abgießen kann, müssen noch Silizium, Mangan und Kohlenstoff zu dem Eisen in den Topf. Einiges davon verbrennt sofort und erzeugt Stichflammen, die bis zur Hallendecke emporlodern. Doch durch diese Zutaten wird aus dem Rohprodukt erst Stahl. Jetzt kippt Mohrbach den Schmelztopf. "Bei diesen Temperaturen", so Betriebsleiter Marc Hölling in sicherer Entfernung zum glühenden Metall, "fließt der Stahl wie Wasser ab."

Eine Million Tonnen Stahl verlassen jährlich das Hamburger Stahlwerk. Das Werk, das Mitte der 1990er-Jahre kurz vor dem Aus stand, gehört heute zu dem luxemburgisch-indischen ArcelorMittal-Konzern - und damit zum größten Stahlmagnaten der Welt mit Hauptsitz im Großherzogtum. Die Hamburger erzielen 450 Millionen Euro Umsatz.

Gearbeitet wird in drei Schichten, rund um die Uhr. 24-mal pro Tag transportiert ein Kran so die Chargen aus dem Lichtbogenofen zum Pfannenofen am anderen Ende der Produktionshalle. Dort wird die Qualität genau auf den jeweiligen Kunden abgestimmt. "Die Temperaturen sind bis auf ein Grad abgemessen und mit den Legierungen wird fast so genau umgegangen wie in einer Apotheke", sagt der Hamburger Geschäftsführer Lutz Bandusch. Aus dem fertigen Stahl gießt seine Belegschaft 13 Meter lange und 1,5 Tonnen schwere "Knüppel". Sie werden zu 5,5 bis 16 Millimeter starkem Draht gewalzt und auf dem Gelände gelagert.

Produktion und Absatz in Hamburg laufen wieder unter Volllast. Noch in der Krise hatte Bandusch jedoch die Produktion um bis zu 50 Prozent herunterfahren müssen. Für die 620 Beschäftigten galt von Dezember 2008 bis Juni 2009 Kurzarbeit. Danach ging es langsam aufwärts. "Wir haben damals vor allem nachts und an den Wochenenden produziert, um den billigeren Strom zu nutzen", erinnert sich Bandusch. Denn allein für Gas und Strom fallen 21 Prozent der Gesamtkosten an. Die Krise ist überwunden. Aber hohe Energiekosten bleiben für den Chef der ArcelorMittal Hamburg GmbH, der 1991 ins Werk kam und seit 2005 an der Spitze steht, eine Herausforderung.

So wird das Unternehmen allein in diesem Jahr 1,7 Millionen Euro mehr für Strom zahlen müssen. 700 000 Euro davon entfallen auf den Zuschlag für erneuerbare Energien, von dem die energieintensive Industrie nicht mehr komplett befreit ist. Dazu kommen eine Million Euro für Vattenfall, das damit die Stromnetze für die Aufnahme von Strom aus Windkraftanlagen ausbauen wird. Der studierte Metallurge Bandusch macht sich Sorgen: "Wenn die Bundesregierung den Strom über Sonderwege immer teurer macht, können Standorte in Gefahr geraten."

Denn die Kosten der Hamburger sind selbst im europäischen Vergleich hoch. So werden im spanischen Baskenland, wo ArcelorMittal ein Werk unterhält, für eine Megawattstunde 50 Euro weniger als in Hamburg berechnet. Bei einem Verbrauch von einer Million Megawattstunden im Jahr ergibt sich eine Differenz von 50 Millionen Euro - mehr als die Lohnkosten an der Elbe.

Eine Verlagerung von Produktion aus Hamburg steht zwar nicht an. "Der Umwelt aber würden wir damit auch keinen Gefallen tun", argumentiert Bandusch. Denn Länder wie Indien oder China, die immer mehr Stahl kochten, fühlten sich nicht an das Kyoto-Abkommen gebunden und würden mehr Klima schädigende Gase produzieren als die modernen deutschen Anlagen. "Unser Werk liegt beim CO2-Ausstoß noch um 35 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt", sagt Bandusch.

Für ihn gibt es zurzeit nur ein Rezept gegen die Zusatzkosten. In Hamburg soll künftig mehr hochwertiger Stahl entstehen. Allein 2008 und 2010 hat der Konzern dafür 27 Millionen Euro in das Werk investiert. In diesem Jahr sollen weitere acht Millionen Euro folgen. In den Markt für Stahlgürtelreifen sind die Hamburger bereits vorgestoßen. Nun laufen erste Versuche, mit Schraubenherstellern ins Geschäft zu kommen. "Dafür muss unser Draht, aus dem später die Gewinde geschnitten werden, noch runder und die Oberfläche noch glatter werden" sagt der 45 Jahre alte Firmenchef. Sein Ziel: In zwei Jahren sollen 30 Prozent des Umsatzes mit hochwertigem Qualitätsstahl erzielt werden. Das soll den Ertrag deutlich über die Kostendeckung steigern, die das Werk 2010 erreichte.

Als besondere Strategie hat Bandusch dazu die jungen Ingenieure im Werk zu einem Team zusammengefasst. Neben ihrer Arbeit sollen sie nach Möglichkeiten suchen, den Energieverbrauch zu senken und neue Produkte anbieten zu können. "Die Branche ist innovativ. 80 Prozent der heutigen Stähle gab es vor zehn Jahren noch nicht", sagt Betriebsleiter Hölling, der die Gruppe führt. Um bei diesem Tempo mithalten zu können, hält der 33 Jahre alte Verfahrenstechniker, der an der TU Harburg promoviert hat, mit Bandusch Kontakt zu Hochschulen. Einige von deren Absolventen wollen sie Jahr für Jahr nach Hamburg holen. Bandusch wünscht sich dazu mehr Frauen in der Belegschaft. "Sie bringen besonders gute Leistungen und tragen zu einem guten Arbeitsklima bei", sagt er.

Eine von ihnen könnte Kristin Helas werden. Die 21-jährige angehende Wirtschaftsingenieurin schreibt gerade an ihrer Bachelor-Arbeit und befasst sich dafür mit der Produktion im Walzwerk. "Wir profitieren schon heute von ihrer Arbeit", sagt Hölling, der sich eine Übernahme gut vorstellen kann. Die gebürtige Dresdnerin will jedoch zunächst ihren Master machen. "Wir sind längst keine reine Männerbranche mehr. Fast alles, was als Knochenjob galt, läuft automatisch", sagt Schmelzmeister Mohrbach, der den nächsten Stahlabstich begutachtet. Der schwarze Eisenstaub, die klobigen Schuhe und die Schutzkleidung, die Hitze und die Helme werden sich nicht vermeiden lassen. Aber über die hat sich Kristin Helas mit keinem Wort beklagt.