Eine Glosse von Nico Binde

Ich weiß nicht genau, ob es Frühlingsgefühle waren. Es könnte auch Zeitnot gewesen sein, wobei mir die Frühlingstheorie besser gefällt. Jedenfalls: Der Mann imponierte mir. Wie er am Steuer seines schwarzen VW Lupo saß, den Kleinwagen durch den morgendlichen Berufsverkehr lenkte - und sich dabei seelenruhig rasierte. Während der Fahrt. Einfach so.

Im Rückspiegel sah ich, wie er mit dem Trockenrasierer behände sein Gesicht durchpflügte, zwischenzeitlich den Stand seines Wirkens begutachtete und dann weiter das Feld zwischen Hals und Augen bestellte. Stoppel um Stoppel, Halm um Halm. Der Mann mähte, kappte, sichelte, mindestens drei Ampeln lang. Zunächst auf dem Heußweg, dann auf der Fruchtallee. Und unsereins, dem nur flaumartiges Gewölle aus dem Gesicht wächst, war beeindruckt von so viel Bart, verzückt von so viel Souveränität.

Ja, ach ja, der Frühling! Seit Jahrtausenden treibt er uns aus den Höhlen, lässt uns mit steigenden Temperaturen euphorisiert das Winterfell von dannen schmeißen. Ein uraltes Ritual, das im Jahr 2011 eben seine Entsprechung im VW Lupo gefunden hat. Der zeitgenössische Großstädter entledigt sich seiner evolutionsbedingten Kälteschutzzotte im Vorbeifahren. Das ist lässig, das hat Art.

Natürlich kann es auch sein, dass mein Held des Tages gar keine Frühlingsgefühle hegte. Vielleicht wurde er im Fußraum nur zufällig eines Rasierers fündig und probierte ihn aus. Vielleicht war er auch einfach nur gestresst. Wobei das wiederum auch einen jahrtausendealten Ursprung hätte. Denn schon Oma wusste: Zeit ist Geld - und Geld haben wir nicht.