Ist Volksdorf tatsächlich so spießig, trügerisch, versnobt, wie es Tina Uebel in ihrem jüngsten Roman nahelegt? Wir haben nachgefragt.

Volksdorf. Es ist Montagnachmittag, halb vier. Ein eisiger Wind pfeift über die Sportplätze am Volksdorfer Grenzweg. Die Straße ist wie ausgestorben, die Spielplätze sind menschenleer. Hinter den hohen Zäunen der Sportanlage stehen die Mädchen vom Walddörfer Sportverein. Dick eingepackt in Jogginganzüge, mit Schal und Handschuhen trainieren sie für das kommende Wochenende. Sie sind alle gekommen, trotz der Kälte. Trainer Bastian Nendza und sein Assistent Heinrich Färber scheuchen die Fußballerinnen über den Platz. Wer nicht mehr kann, wird angefeuert. Es geht um das Zusammenspiel.

In der Pausenhalle des Gymnasiums Buckhorn plaudern unterdessen Tore Zeppernick, Christoph Eder und Johannes Wanckel über die mündlichen Abiprüfungen. Die drei machen Pläne für die Zeit nach der Schule. Christoph will Dirigent werden, Tore Musiker. Johannes' Herz schlägt für die Werbung. Aber so genau weiß er das noch nicht.

Nach den Prüfungen will Christoph erst einmal sein Projekt vorantreiben. Er will Schülern aus sozial schwachen Stadtteilen helfen, sie in seiner Freizeit unterrichten. Dafür will er Plakate aufhängen und für Schülerpatenschaften werben. Er ist sich sicher, dass die meisten seiner Mitschüler die Sache unterstützen. Es geht um den Gemeinsinn.

Im Café Caligo im Herzen von Volksdorf plaudert Sophie Ruppert, 17, mit ihrer Freundin Lara Skotki. Ihr Deutschlehrer hat in der Schule ein Plakat aufgehängt. Jeder, der daran vorbeigeht, kann es sehen. Den grün vermoosten Stein mit dem gelben Ortsschild, auf dessen Mitte der Titel "Last Exit Volksdorf" prangt. Sophie kann sich über das Cover und den Inhalt nur amüsieren. Sie kennt den Stadtteil seit ihrer Kindheit. Die letzte Ausfahrt, die Endstation also - unzutreffender hätte die Autorin Tina Uebel den Ort am Rande der Stadt nicht beschreiben können. Da sind sich Sophie und Lara einig. Es geht um Richtigstellung.

Mit ihrem verstörenden Roman hat die Hamburger Autorin einen Stadtteil in Aufruhr versetzt. Eine Abrechnung mit dem Spießeridyll, das nun mit der Autorin abrechnet. Die Auslieferung des Buches wurde bereits gestoppt, weil eine Person gegen den Roman klagt. Jetzt soll das Werk gänzlich zurückgerufen werden. Es geht um verletzte Persönlichkeitsrechte.

Es sind aber auch die Jugendlichen, Tore und Christoph, Johannes, Sophie und Lara, und die Mädchen vom Fußballplatz, die sich angegriffen fühlen. Denn die Autorin hat sich ganz bewusst dafür entschieden, ihre Geschichte in Volksdorf spielen zu lassen. "Ein Ort wie Volksdorf ist prädestiniert dafür, so etwas vorzuführen, weil dort der soziale Druck einfach viel höher ist, der Konformitätsdruck, der Anpassungsdruck, der Perfektionsdruck. In Volksdorf dreht es sich vielmehr darum, die Fassade, den schönen Schein, aufrechtzuerhalten, Dinge unter den Teppich zu kehren", sagte sie jüngst im Interview.

Und in ihrem Roman "Last Exit Volksdorf" schreibt Uebel über die Jugend: "Die Söhne und Töchter, mit 15 das Mofa, Vespa, mit 16 den Roller, auch Vespa, mit 18 das Auto, Golf, mit 25 die Eigentumswohnung, Winterhude, mit 60 den Krebs." Die Jugend in Volksdorf sei kaputt, lebensuntauglich und vollkommen unlustig, die Anforderungen der Elternhäuser ernst zu nehmen, behauptet die Autorin, 1969 geboren, die selbst in dem reichen Hamburger Vorort aufwuchs und mit ihrem Freund in den Kneipen auf der Reeperbahn Zuflucht suchte. Zuflucht vor "den grauseligen grünen Vororten Hamburgs, wo wir in eine Schule gingen, in der Lebensformen in Lacoste-Hemden und weißen Golfen ihrer Karrierechancen wegen noch vor dem Abitur in die Junge Union eintraten und die Verlogenheit der Oberschichtenbürgerlichkeit einem die Luft zum Atmen nahm."

"Von einem eigenen Auto können die meisten von uns nur träumen", sagt Christoph Eder. Und in die CDU eingetreten sei er auch noch nicht. Eder ist 18 Jahre alt, kommt aus einem wohlhabenden Elternhaus. Ein fröhlicher Typ, der sich stundenlang mit Musik beschäftigen kann. Wenn er etwas braucht, weiß er, dass seine Eltern es ihm möglich machen könnten. Allein die Gewissheit gibt ihm das Gefühl von Geborgenheit. Sie macht ihn aber weder arrogant noch versnobt, wie den Volksdorfer Jugendlichen bisweilen nachgesagt wird. Oder gar intolerant. Christoph hat das am eigenen Leib erfahren. Er ist schwul. "Vor vier Jahren hatte ich mein Coming-out", sagt er. "Ich bin hier nie angefeindet worden."

Vielleicht - oder gerade weil - Christoph in einem Stadtteil aufgewachsen ist, in dem die meisten Haushalte als gutbürgerlich und bildungsnah beschrieben werden, in dem Eltern Zeit haben für ihre Kinder und ihnen die Möglichkeit geben, sich zu entfalten und der Welt offen und neugierig zu begegnen.

Sein Lehrer Fritz Fegebank hat ihn gelehrt, dass es wichtig ist, ehrlich zu sein. "Ehrlichkeit muss die Basis sein", sagt Fegebank. "Sie impliziert Vertrauen." Fegebank unterrichtet seit mehr als 40 Jahren am Buckhorn-Gymnasium. Er kann das Urteil von Autorin Uebel nicht nachvollziehen. "Wir haben hier gute Elternhäuser, die ihre Kinder behüten. Und ihnen viel von zu Hause mitgeben." Kaputt - das sei definitiv der falsche Begriff für die Jugendlichen hier. Sein Kollege Christian Borck, 45 Jahre alt und stellvertretender Schulleiter, sagt: Wichtig sei das soziale Engagement der Schüler. Nicht nur für sich, auch für andere da zu sein. "Wir wollen keine Nobelpreisträger oder Wirtschaftskapitäne ausbilden." Die Schüler sollten vielmehr das, was sie hier an Bildung mitnähmen, als Verpflichtung sehen, etwas zurückzugeben.

Tina Uebels Volksdorf ist ein Ort, an dem man das Streben nach Perfektion und Leistung schon an den gehegten Rhododendronbüschen in den Vorgärten und an den Wagen in den Garagen erkennt. Borcks Volksdorf ist ein Ort, an dem sich Schüler entfalten können. Natürlich spiele Leistung auch eine Rolle. Und sicherlich gebe es Eltern, die sich wünschen, dass ihre Kinder erfolgreich sind. Aber wo gebe es die nicht? Interessant sei doch, wie die Jugendlichen damit umgehen. "Und die sind selbstbewusst und lassen sich nichts vorschreiben", sagt Borck.

Sie spielen eben nicht zwangsläufig Golf und gehen zum Reiten. Sie ziehen ein soziales Jahr in Ecuador dem schnellen Studienabschluss und der Karriere vor. Und sie treffen sich nicht nur virtuell bei Facebook, sondern auf dem Fußballplatz, wie Heinrich Färber aus eigener Erfahrung weiß. Färber ist 52 Jahre alt, Internist und ehrenamtlicher Trainer beim Walddörfer SV. Dreimal in der Woche steht er mit seinen Mädels auf dem Platz, am Wochenende fährt er mit ihnen zu Punktspielen. "Seine Mädels", das sind Mädchen wie Louisa Margott und Freya Hinrichs. 14 und 15 Jahre alt. Sie spielen, weil es ihnen Spaß macht. Weil ein Mannschaftssport Teamgeist fördere und man spüre, dass man auf dem Platz nicht allein sei, sagen sie. "Es geht dabei um Zusammenarbeit und Disziplin", sagt Freya. Um die gemeinsame Sache. Die beiden Mädchen wollen das weitergeben. Zweimal in der Woche trainieren sie ehrenamtlich die Mannschaft der E-Jugend. "Trainer sein heißt, Verantwortung zu übernehmen", sagt Freya. "Da lerne ich selbst eine ganze Menge dazu."

Trainer Färber hat die Mädchenfußballsparte in Volksdorf vor fünf Jahren aufgebaut. 150 Mädchen sind inzwischen dabei. "Ich denke nicht, dass wir hier den Herd einer Jugendproblematik haben", sagt er. "Sie sind weder verwöhnt noch degeneriert."

Lara Skotki und Sophie Ruppert haben ihren Kaffee im Caligo ausgetrunken. Sie müssen sich beeilen. Der Unterricht beginnt gleich. Es geht darum, pünktlich zu sein. Die U-Bahn zum Buckhorn fährt nur alle 20 Minuten.