36 459 Hamburger gehen zur Arbeit und sind dennoch auf Hartz IV angewiesen. Ein neuer Rekord. Gewerkschaft kritisiert Niedriglöhne.

Hamburg. Große Sprünge sind für Katja Winter* nicht drin. Die junge Frau sitzt in der hellblau gestrichenen, etwas kühlen Küche ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung in Rothenburgsort. Eine Mikrowelle gibt es hier, einen Geschirrschrank und einen kleinen Herd Marke Juno, der zur Minimalausstattung vieler Hamburger Mietwohnungen gehört. Schlicht, gepflegt, aber alles andere als luxuriös wirkt der Raum.

60 bis 70 Stunden im Monat arbeitet Katja Winter bei einer großen deutschen Billigkette. Gerade ist sie von der Frühschicht zurückgekommen. Hat Regale eingeräumt, Kisten geschleppt, an der Kasse gesessen. Etwa 800 Euro brutto bekommt sie dafür im Monat. Allein 450 Euro gehen für die Miete ihrer kleinen Wohnung weg. "Da bleibt fürs Essen und für Kleidung kaum noch etwas übrig", sagt die 21-Jährige.

Gern würde die junge Frau Vollzeit bei dem Discounter arbeiten, doch eine solche Stelle bietet ihr Arbeitgeber nicht an. Deshalb hat Katja Winter jetzt Arbeitslosengeld II, im Volksmund Hartz IV, beantragt. "Es war ein schwerer Schritt, aufs Amt zu gehen und um Hilfe zu bitten", sagt die gelernte Einzelhandelskauffrau. "Aber von meinem Job allein kann ich einfach nicht leben."

So wie Katja Winter geht es immer mehr Beschäftigten in der Hansestadt. Nach Angaben der Hamburger Agentur für Arbeit ist die Zahl der sogenannten Aufstocker - also jener Menschen, die zusätzlich zu ihrem Verdienst noch Hartz IV beziehen - seit Anfang 2009 deutlich angestiegen. Bekamen damals noch 32 775 Beschäftigte staatliche Hilfe, so waren es im September vergangenen Jahres schon 36 459 - ein Plus von rund elf Prozent. Aktuellere Daten liegen derzeit nicht vor.

Auch bundesweit hat sich die Zahl der Aufstocker von 1,3 auf 1,4 Millionen erhöht. Vor allem in der Zeitarbeitsbranche, in der Gastronomie und im Handel gibt es viele Menschen, die mit ihrem Verdienst allein nicht über die Runden kommen. ,Jeder sechste Aufstocker in Hamburg arbeitet im Einzelhandel", sagt Björn Krings, Fachsekretär der Gewerkschaft in der Hansestadt. "Die Arbeitgeber missbrauchen das soziale Netz, um niedrigere Löhne zahlen zu können."

Forscher des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeichnen allerdings ein differenzierteres Bild. "Es ist zwar richtig, dass der überwiegende Teil der Aufstocker nur sehr niedrige Stundenlöhne erhält", sagt Mark Trappmann, der eine Studie zum Thema verfasst hat. Im Westen lägen diese im Schnitt bei sieben Euro, im Osten gerade noch bei sechs Euro.

"Viele Aufstocker haben aber auch deshalb nicht genug zum Leben, weil sie nur teilzeitbeschäftigt sind", so der Forscher weiter. Dabei seien viele der Betroffenen durchaus motiviert, mehr zu arbeiten. "Sie schaffen dies aber nicht aus den unterschiedlichsten Gründen." So sei es für alleinerziehende Mütter beispielsweise schwierig, eine Betreuung für ihre Kinder zu finden. In Trappmanns Untersuchung gaben zudem 35 Prozent aller befragten Aufstocker an, gesundheitlich eingeschränkt zu sein, elf Prozent hatten nach eigenen Angaben eine Behinderung, die sie von einer Vollzeittätigkeit abhielt.

Nach Einschätzung der Gewerkschaft gibt es auch Branchen, in denen der Einsatz von Teilzeitkräften und Minijobbern praktisch zum Geschäftsmodell gehört. "Im Einzelhandel ist heute kaum noch eine Vollzeitstelle zu bekommen", sagt Ver.di-Sekretär Krings. "Es gibt große Modeketten, die ihren Mitarbeitern bewusst nur Zehn-Stunden-Verträge anbieten und den Rest über Überstunden regeln." Dadurch erreichten die Unternehmen ein Höchstmaß an Flexibilität. "Für die Mitarbeiter ist das aber natürlich katastrophal, weil sie nie wissen, ob ihr Verdienst zum Leben reicht."

Auch Katja Winter hat beim Discounter schon eine Reihe von Überstunden abgeleistet. Eine Aussicht auf eine komplette Stelle hat die junge Frau aber dennoch nicht. "Man hat mir gesagt, dass derzeit niemand Vollzeit eingestellt wird", erzählt sie. Wie hoch ihre Ansprüche aus Hartz IV sein werden, wird die Verkäuferin in den kommenden Wochen erfahren. "100 bis 200 Euro mehr im Monat würden mir schon sehr weiterhelfen", sagt Winter. Nach Auskunft des Hamburger Jobcenters, das die Aufstocker in der Hansestadt betreut, wäre in einem vergleichbaren Fall sogar mit einer Leistung von rund 400 Euro monatlich zu rechnen.

Generell dürfen Hartz-IV-Empfänger die ersten 100 Euro, die sie sich in einem Job hinzuverdienen, komplett behalten. Bei einem Zuverdienst zwischen 100 und 800 Euro werden 80 Prozent auf die Hartz-IV-Leistung angerechnet, zwischen 800 und 1500 Euro sind es 90 Prozent.

Im Hamburger Jobcenter geht man davon aus, dass sich die Lage bei den Aufstockern aufgrund der verbesserten Wirtschaftslage jetzt eher entspannt als weiter zuspitzt. "Der Zuwachs im September 2010 dürfte der Höhepunkt gewesen sein", meint Sprecher Horst Weise. Die Zahl derjenigen Aufstocker, die in Hamburg vollzeitbeschäftigt seien, habe im vergangenen Jahr bereits deutlich abgenommen.

Katja Winter würde lieber heute als morgen einen Job antreten, von dem sie auch leben kann. "Ich möchte so bald wie möglich wieder auf eigenen Füßen stehen", sagt sie.

* Name von der Redaktion geändert