Sally “Salomon“ Perez ist Zeitzeuge und Holocaust-Überlebender. Jetzt erzählte er Schülern der Reformschule Winterhude seine Lebensgeschichte.

Winterhude. "Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust." Diese berühmten Worte aus Goethes "Faust" beschreiben am besten die Gefühle des Juden Salomon "Sally" Perel, der als Hitlerjunge Josef getarnt den Holocaust überlebte. Seit fast 20 Jahren erzählt der mittlerweile 85 Jahre alte Mann aus Tel Aviv seine Lebensgeschichte. Eine filmreife Geschichte, die unter dem Titel "Hitlerjunge Salomon" 1990 auf die Leinwand kam. Und immer noch sagt Perel: "Bis heute konnte ich niemals ein Ganzes werden. Ich lebe ein Doppelleben." Gestern war er zu Besuch in der Reformschule Winterhude, um vor Elftklässlern zu berichten, wie der kleine jüdische Salomon aus Peine in Niedersachsen seine jüdische Identität leugnete und als Hitlerjunge überlebte.

"Zeitzeugen sind die besten Geschichtslehrer", zitiert Perel den Filmregisseur Steven Spielberg. "Ich war Hitlerjunge Salomon." Der kleine rundliche Mann mit dem freundlichen Gesicht sitzt vor 60 Schülern auf einem Holzpodest in einem dieser provisorischen Container, die als Klassenraum dienen. "Ich habe den Massenmord an meinem Volk überlebt, versteckt unter der Haut des Feindes." Die ersten acht Jahre seines Lebens waren noch ganz friedlich: 1925 kam er in einer jüdischen Rabbinerfamilie in Peine zur Welt. "Ich hatte eine glückliche Kindheit, meine lieben Freunde, ohne Handy, Pokémon, ohne Fernsehen. Wir hatten Bücher!" Gelächter. Perel ist jemand, der mit jungen Leuten kann und Humor hat. "Ich liebe die deutsche Jugend, und ich stelle fest: Die deutsche Jugend liebt mich auch, so viele Facebook-Freundschaftsanfragen, wie ich habe."

Nach der Machtergreifung Hitlers flohen die Perels nach Lodz in Polen. Als die Deutschen 1939 dort einmarschierten, schickten die Eltern den 14-Jährigen mit seinem älteren Bruder Isaak ins sowjetisch besetzte Grodno. "Sally, du sollst leben", sagte seine Mutter vor dem Abschied für immer. In Grodno lebte er in einem Kinderheim, bis die Wehrmacht Ostpolen besetzte. Seine erneute Flucht endete 1941 in Weißrussland: Die Deutschen verhafteten den damals 16-Jährigen.

Die Mädchen und Jungen, die ihm zuhören, sind so alt wie er damals, als ein SS-Soldat ihn fragte: "Bist du Jude?" Hätte er die Wahrheit gesagt, wäre er direkt erschossen worden. Stattdessen sagte Sally: "Nein, ich bin kein Jude, ich bin Volksdeutscher." Vier Jahre lang lebt er auf einem Internat der Hitlerjugend. Vier Jahre versteckt unter den Todfeinden. "Für mich waren es vier Ewigkeiten", sagt er. Immer war da die Angst, als Jude enttarnt zu werden. Er konnte sich nicht einfach so mit den anderen duschen, weil ihn seine Beschneidung sofort als Juden verraten hätte. Manchmal half es, beim Duschen viel Schaum zu produzieren. Einmal flog Perels Lüge auf, als der schwule Wehrmachtssoldat Heinz K. versuchte, ihn zu vergewaltigen und ihn nackt sah. Heinz K. verriet ihn nicht, sondern sagte: "Es gibt noch ein anderes Deutschland, weißt du." Der wichtigste Mechanismus, der Perel half, das gefährliche Schauspiel und seine Selbstleugnung zu überstehen, war die Spaltung der Seele in zwei Welten - da war die jüdische und die andere Seite: ein deutscher Junge, ein teilweise begeisterter Hitlerjunge.

Es überrascht, wenn Sally Perel ehrlich ist und sagt, dass er sich mit der Ideologie der Nazis sogar identifizierte. "Ich habe die Hakenkreuze verinnerlicht. Ich wurde ein Hitlerjunge." Er war 16 und wollte überleben. Jahrelang impften die Lehrer den Hitlerjungen systematisch ihr Gedankengut ein. "Wie Gift wird es eingeflößt und fängt dann an zu wirken." Ein junges Gehirn könne man eben leicht vergiften. Selbst er, der Junge aus einer Rabbinerfamilie, dessen Eltern im Warschauer Getto waren, war nicht immun dagegen. Er war mittendrin. Das Erschreckende ist, dass dieses Nazigift noch wirkt: "Ich muss mich immer mit dieser Nazi-Doktrin auseinandersetzen und bin dauernd mit dem Hitlerjungen in mir in Konflikt."

Als Jude "Sieg Heil" gerufen haben zu müssen, belastet. "Ich schrie mit Begeisterung 'Es lebe der Sieg', während mein Bruder vergast und verbrannt wurde", sagt Perel. Er sagt es ganz ruhig. Und das überrascht jedes Mal, wenn Holocaust-Überlebende wie Sally Perel von dieser Zeit berichten: Sie erzählen meist in einem ruhigen, sachlichen Ton. Häufig in einer Mischung aus Tragik und Komik. Als ihn der Lehrer im Rassekunde-Unterricht vor die Klasse zitierte, sagte der Pädagoge: "Schaut euch Josef an. Er ist ein typischer Abkömmling der ostbaltischen Rasse."

Perel klagt nicht an. "Ich verzeihe nichts. Ich habe der deutschen Jugend nichts zu verzeihen. Schuld ist nicht erblich." Verzeiht er sich den Verrat an seinem Volk? "Das Schicksal hat mir diesen Überlebensweg gezeigt." Von den Schülern wünscht er sich, als Zeitzeugen diese Wahrheit an ihre Kinder und Enkel weiterzugeben. Sein Leben, sagt er, "ist nur ein kurzer Funke".