Ein Traumgespinst von Tom R. Schulz

Gäbe es eine Gesellschaft für bedrohte Konzertformen, der Liederabend wäre ein nobler Aufnahmekandidat. Nur die mit gewaltigem Marketingaufwand durch die Konzertsäle getriebenen nächsten Supertenöre und Primadonnen jeden Alters und jeder Stimmbandverfassung brauchen sich um ihr Publikum keine allzu großen Sorgen zu machen.

Wer aber das Kunstlied zu seiner Gattung erhebt, also der Poesie gegenüber dem Drama den Vorzug gibt, muss mit kleinen Sälen und auch dort noch mit manch leerem Sessel vorliebnehmen. Das macht allerdings überhaupt nichts, denn in einen Liederabend verirrt man sich nicht. Da geht nur hin, wer wirklich will. Entsprechend aufmerksam ist das Publikum. Bei Chen Reiss' Liederabend hätte man ein Hustenbonbonpapier zu Boden segeln hören können, so still war's in den Reihen. Da sitzt eine Elite der Genügsamkeit, die Zwischentöne liebt, in Kunst verwandeltes Liebesgeflüster, Andeutungen, Innerlichkeit und die unendlichen Subtilitäten zwischen Klaviersatz und Singstimme, zwischen Text und Tönen. Wenn dann noch einzelne Musiker hinzutreten und das Zwiegespräch erweitern, muss man sich nur noch die starre Bestuhlung wegträumen. Und schon hat man fast wieder einen Salon, wo Geist und Musen von der Romantik bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein miteinander spielen, als gäb's kein Gestern.