Gründungsmitglied Christa Meyer berät in der Bremer Selbsthilfegruppe “Schattenkind“ erwachsene Adoptierte.

Hamburger Abendblatt:

1. Es gibt Babyklappen und die Möglichkeit der anonymen Geburt. Was geht in einer Frau vor, die dennoch ihr Neugeborenes in einem Koffer aussetzt, wie jetzt in Hamburg, und seinen Tod in Kauf nimmt?

Christa Meyer:

Diese Frau muss völlig verzweifelt gewesen sein. Unter normalen Umständen geht man regelmäßig zum Arzt, man macht sich Gedanken, ob das Baby gesund ist, ob es wächst. Man freut sich, spricht mit dem Vater des Kindes, mit der Familie darüber. All das fehlte wohl dieser Frau. Sie musste alles geheim halten. Da baut sich ein großer Druck auf, der dann zu so einer Verzweiflungstat führen kann. Diese Mutter wird ihr Leben lang darunter leiden, ebenso wie ihr Kind. Deshalb kann ich an sie nur appellieren: Nimm dein Kind zurück, trau dich und melde dich.

2. Was müsste man solchen verzweifelten Frauen anbieten?

Meyer:

Wichtig ist, dass man ihnen schon im Vorfeld Schutz gewährt. Jede Stadt müsste ein "Schwangerenhaus" haben, wo verzweifelte Schwangere hingehen können und man ihnen hilft. Man muss diesen Frauen vermitteln, dass sie versorgt werden und Hilfe bekommen. Von Babyklappen halte ich nichts, weil sie gezeigt haben, dass trotzdem Kinder "entsorgt" werden.

3. Sie leiten eine Selbsthilfegruppe für adoptierte Erwachsene. Was suchen Ihre Teilnehmer?

Meyer:

Vom Erfahren, dass man adoptiert ist, bis zum Schritt, sich auf die Suche nach den leiblichen Eltern zu machen, vergehen meist Jahre. Oft erfahren Adoptierte erst bei der Heirat davon, weil sie es in der Abstammungsurkunde lesen, manchmal erst beim Tod der Adoptiveltern. Viele wissen nicht, mit wem sie darüber sprechen sollen. Die Adoptiveltern haben Angst, darüber zu reden, weil sie fürchten, ihr Kind zu verlieren. In der Selbsthilfegruppe kann man mit Menschen reden, die einen verstehen. Man kann erzählen, was man empfindet. Wir begleiten Betroffene bei der Suche nach den Wurzeln.

4. Wann ist der richtige Zeitpunkt, um einem Adoptivkind die Wahrheit zu erzählen?

Meyer:

Da gibt es keine Patentlösung. Wenn ein Kind das erfährt, bricht seine Welt zusammen. Das ist eine Sache, die einem den Boden unter den Füßen wegreißt. Und irgendwann kommt der Wunsch, die leibliche Mutter kennenzulernen. Der ist ganz tief drin.

5. Sie sind selbst als Baby zur Adoption freigegeben worden. Wie wichtig ist es, den Kontakt zur leiblichen Mutter aufnehmen zu können?

Meyer:

Es ist ganz wichtig, dass man die Geschichte der Mutter kennenlernt. Oft ist sie aus der Sicht der Mutter eine ganz andere als die, die man von den Adoptiveltern erfährt.