Wir halten uns für liberal, im Denken, im Handeln - so möchten wir gern sein, ja leben. Doch warum wählen dann nur sehr wenige von uns die FDP?

Bei den Nachbarn ist es wieder laut. Meistens ist es laut dort. Ob es an den dünnen Wänden liegt oder daran, dass die Kinder nicht immer einer Meinung, dafür aber voller Temperament sind, ist nicht auszumachen, und überhaupt ist es auch egal. Sind schließlich Kinder. Ist das Leben. Individuell, eigen und ein bisschen laut. Sie sind so frei.

Wir lieben die Freiheit. Wir streiten ihretwegen, wir kämpfen und diskutieren für sie; Schranken sollen durchbrochen werden - nicht erst seit WikiLeaks. Freiheit, das ist für die Deutschen in allererster Linie Handlungs- und Entscheidungsfreiheit und zentraler Wert für die Lebenszufriedenheit des Einzelnen sowie Baustein für den ökonomischen Erfolg einer Gesellschaft. Das beschreibt eine Analyse des Allensbach-Instituts so, die außerdem besagt, dass dem Wert Freiheit in beiden Teilen des Landes eine nahezu gleich hohe Bedeutung zugemessen wird.

Wir halten uns für liberal, im Denken, im Handeln - liberal, das heißt qua definitionem freiheitlich, vorurteilslos. Das möchten wir gern sein. So möchten wir leben. Warum nur, wenn Liberalität und freiheitliches Sein so wichtig für uns Deutsche sind, warum dann wählen wir eigentlich nicht liberal? Warum kommen die Freien Demokraten auf Umfrageergebnisse von drei oder vier Prozent im Bund? Und wie passt das herausragende Wahlergebnis der jüngsten Bundestagswahl dazu? 14,6 Prozent erreichte die FDP . Möglicherweise ist den Freidemokraten damals die Unlust der Deutschen an einer Großen Koalition hilfreich gewesen. Die Wechselwähler der Konservativen.

Verlässlich für die Zukunft ist so etwas nicht. "Gerechtere" Steuern - das Wahlversprechen der Liberalen, die in ihrem Programm einen Stufentarif bei der Einkommenssteuer forderten, wirkte zusätzlich besonders reizvoll. Zumindest die Hamburger könnten Guido Westerwelle bei der Frage nach dem Warum für einen Moment ausblenden - schließlich hatte die FDP in der Hansestadt, der freien, fast ausschließlich katastrophale Werte -, sie tun es allerdings nicht. Wer in die eine oder andere Runde Hamburger Kaufleute hineinhört, erfährt, dass dort tatsächlich vor allem Guido Westerwelle für unseriös gehalten wird. Die Figuren, die den Liberalismus in Deutschland vertreten, wirken vielen als arrogant, abgehoben, ihnen, den Wählern, nicht nah. Herzen gewinnen kann dieser Typ Politiker offenbar nicht.

Gerade in Hamburg, bei den Menschen mit dem kühlen Kopf und dem heißen Herzen, in der Stadt der Mäzene, der Kaufleute, von denen man meinen könnte, sie wären prädestiniert dazu, Gelb zu wählen, auch weil Freiheit als Garantin für wirtschaftliche Errungenschaften auch ideologisch Voraussetzung ist - gerade hier will längst niemand mehr etwas von der FDP wissen. Es scheint, als verfehle das Liberale einer FDP die Liberalität der Bürger.

Dabei hat die FDP Personal, das dem Gedanken eines modernen Liberalismus entspricht: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, zum zweiten Mal Bundesjustizministerin und Teil des linken Flügels der FDP, spricht die Sprache liberaler Bürger. Im Zusammenhang mit den Fällen sexuellen Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche hat sie mit lauter Stimme für die Opfer gesprochen. Ihre Forderung, die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz von 2002 im Sinne einer Benachrichtigung der Staatsanwaltschaft bei jedem bekannt werdenden Missbrauchsverdacht zu überarbeiten, wurde dann auch von der bayerischen Bischofskonferenz aufgenommen. Sie engagiert sich seit 2004 als Stiftungsbeirätin der Stiftung Pro Justitia. Neben den verschiedenen Ämtern, die sie innehält, gehörte sie zu den Unterstützerinnen von Alice Schwarzers PorNO-Kampagne, die eine Durchsetzung des Verbots der Pornografie anstrebt. Leutheusser-Schnarrenberger setzt sich von jeher gegen eine Vorratsdatenspeicherung ein, bei der die Telekommunikationsanbieter Daten speichern, ohne dass es einen Anfangsverdacht gibt.

All das sind Themen und Bereiche, die dem Bürger nah sind, für die er sich einen Vertreter wünscht. In einem Interview mit dem Magazin "Spiegel" sprach die Justizministerin über das Thema Bürgerrechte: "Die FDP besteht (...) auf einer stärkeren Berücksichtigung der Bürgerrechte. Nach dem 11. September 2001 muss die Balance von Freiheit und Sicherheit wieder besser austariert werden, wie wir es mit den Gesetzen zur Stärkung der Pressefreiheit und zur Verbesserung des Vertrauensschutzes von Berufsgeheimnisträgern begonnen haben." Den Wähler scheint dieses Bild der FDP nicht zu erreichen.

Liberalsein ist nicht die Dominanz der Beliebigkeit, sondern bedeutet, im Wissen um die Werte und eigene Wertvorstellungen anderes Leben zu tolerieren. Ja, zu akzeptieren und sogar zu unterstützen, sofern es nicht die Freiheit aller einschränkt. Die Freien Demokraten vermitteln dieses Bild nicht. Sie scheinensich nur auf die Seite einer betuchteren Minderheit zu schlagen - aus wahltaktischen Gründen. Dass die Taktik sich überlebt hat, allein auf die freie Marktwirtschaft und den Kapitalismus zu setzen und zu hoffen, dass man sich damit A ausreichend von den großen Volksparteien unterscheide und B in einer multimedialen Welt die veränderten Bedürfnisse einer breiten Wählerschaft treffe, scheint an den desaströsen Umfrageergebnissen der Partei durchaus ablesbar zu sein.

Doch wann, wenn nicht in Zeiten von Angst, Beklemmung, von Terror und Bedrohung, wann, wenn nicht in einer Gesellschaft, in der das Individuum sich verschluckt fühlt von der globalisierten Masse, hätte eine liberale Partei bessere Chancen, sich neu zu erfinden? Oder sagen wir: neu auszurichten. Denn die liberalen Grundsätze des 19. Jahrhunderts gelten noch heute und finden Anklang. Die individuelle Freiheit des Einzelnen ist seither zentral für den deutschen Liberalismus. Der Staat tritt in die zweite Reihe, das Individuum ist in seinem Recht zu schützen und bei der Selbstentfaltung höchstens zu unterstützen. So wenig staatliche Einmischung wie möglich, so viel Schutz wie nötig - die Grundfeste der Liberalen.

Nur reicht das dem Bürger offenbar nicht mehr. Die FDP sieht sich in der Pflicht, vor allem staatliche Übergriffe in Form von hohen Steuern abzuwenden. Das mag dem einen oder anderen gefallen, geht aber an der Lebenswirklichkeit des Bürgers offensichtlich vorbei. Der hat Angst vor den "Googles" dieser Welt, will nicht kontrolliert und überwacht werden und versucht sich als kleines Rädchen in einem Mega-Konzern wider alle Ängste und Ratschläge sein Recht auf Individualität zu bewahren und dabei nicht den Arbeitsplatz zu verlieren. Dabei hilft ihm die FDP nicht.

Die Freien Demokraten haben es verpasst, ihren liberalen Gedanken mit Herz zu füllen. Da gibt es andere als die FDP, wie zum Beispiel die Grünen, aber auch die CSU, die es schaffen, Vertrauen zu säen. Vertrauen, dass sie diejenigen sind, die den Schutz von persönlichen Werten und Rechten zu ihrer Angelegenheit gemacht haben. Nehmen wir nur Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU). Ist sie nicht mit ihrem Vorwurf, Facebook verstoße gegen geltendes Recht und verletze die Privatsphäre des Einzelnen, näher am Bürger, gerade an den jungen, als eine FDP? Wo ist die liberale Partei, die gegen die Benachteiligung von Frauen kämpft, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Die FDP, die liberale Partei, hat heute einen veränderten, einen neuen alten Auftrag. Und den hat sie nicht verstanden.

Die Allensbach-Forscher fanden übrigens auch heraus, dass die Deutschen, stellt man sie vor eine konkrete Alternative, ob sie Freiheit oder Gleichheit beziehungsweise Freiheit oder Sicherheit vorziehen würden, jeweils die Freiheit opfern würden.

Wer sich zudem die Entwicklungen im Wahlverhalten über Jahre hinweg näher besieht, könnte vermuten, dass dem Wähler nur dann gefällt, was seine Vertreter leisten, wenn unterm Strich viel für ihn dabei herauskommt - oder wenn "Herzensangelegenheiten" in ihrem Sinne bearbeitet werden (siehe Stuttgart 21 oder die Hamburger Schulreform). Seinen eigenen Einsatz bezieht der Bürger in die Rechnung nicht ein. Dass es neben der Toleranz auch heute noch wichtig ist, für die erworbene Freiheit einer liberalen Gesellschaft einzustehen, klingt vielen unbequem.

Die alte Idee des Wirtschaftsliberalismus, der Einzelne möge nach dem Höchsten und Besten streben und so das Wohl aller mehren, scheint dem sozialdemokratischen Gedanken von Solidarität entgegenzustehen. Demjenigen, der zu wenig Geld, zu wenig Bildung, zu geringe Chancen hat, dem nutzen die Möglichkeiten der größtmöglichen Freiheit wenig, sagen die Kritiker. "Ein gelebtes Stück Zivilgesellschaft", sagt der Historiker und Liberalismusforscher Professor Jörn Leonhard von der Freiburger Universität "findet sich im Mäzenatentum. Darin verbinden sich Großzügigkeit, Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit mit der Verantwortung für das bonum commune . Genau dies meint der vorpolitische Gesinnungsbegriff Liberalität, aus dem der Bewegungsbegriff Liberalismus im Verlauf des 19. Jahrhunderts erst erwachsen ist." Ist Liberalität heute nur noch für den Besserverdienenden lebbar, nur noch für eine kleine Gruppe überhaupt erreichbar?

Auf der Suche danach, wie Liberalität heute aussieht, erscheint eins jedenfalls deutlich: Vor allem nutzen wir sie. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, frei und nach unserer Fasson und zu unserem alleinigen Vorteil und Nutzen zu leben, dass wir es kaum noch bewusst wahrnehmen. Wir haben die Meinungs-, Religions- und Pressefreiheit, das Versammlungsrecht, wir haben Grund- und Menschenrechte - all das Anzeichen und Ausdruck von Freiheit, all das Forderungen der "ersten Liberalen" um die Publizisten Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Johann Georg August Wirth, die wider die Beschneidungen der Rechte der Bürger und die Übermacht des Staates schritten und 1832 zum Hambacher Fest - einem Volksfest, denn politische Versammlungen waren verboten - luden. Die aufstanden für die Freiheit.

Wird der Liberalismus nicht mehr gebraucht, weil das ursprüngliche Ziel erreicht erscheint? Nein, denn dieses Ziel bildet die Grundmauern für eine moderne liberale Gesellschaft, von der niemand weichen möchte. Die schwarz-rot-goldene Flagge - die Trikolore der Liberalen beim Hambacher Fest - weht in Deutschland noch heute und verweist über die Staatsgrenze hinaus auf unsere Gesinnung. Diese hochzuhalten bleibt erstrebenswert.

Allerdings haben es sich die Bürger, die Freiheitsliebenden in dem Erreichten auch zu bequem gemacht. Am Ende sind wir weniger liberal, als wir es gern wären. Wir wollen, dass der Staat sich raushält. Aber bitte nicht zu weit. Eine deutliche Mehrheit der Deutschen meint beispielsweise, der Staat solle sich um all dies kümmern: dass die Preise nicht steigen; es mit der Wirtschaft vorangeht; es gute Universitäten gibt; der Verkehr sicher ist und öffentliche Verkehrsmittel bereitstehen; es gerechte Löhne gibt; im Notfall die Feuerwehr kommt; man im Krankheitsfall abgesichert ist. Der Staat soll sich raushalten? Nur so weit es angenehm ist.

Was sind wir bereit, für Freiheit, für Liberalität zu geben? Wir scheuen das Risiko. Das ist es jedoch, was mit dem liberalen Gedanken einhergeht: Selbstverantwortung.