In 47 Tagen reiste die Autorin Tina Uebel durch zehn Länder nach China. Im Abendblatt schreibt sie über ihre persönlichen Grenzerfahrungen.

Landgrenzen liebe ich. So man denn den richtigen Pass hat, sie zu passieren. Der meine ist prall gefüllt mit einem Kessel Buntem, den diversen Visa, derer es bedarf auf meinem Weg von Hamburg nach Shanghai, durch Serbien, Bulgarien, Türkei, Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Kasachstan, China, und deren termingerecht getaktete Beschaffung selbst demjenigen eine satte Dosis Suspense beschert hätte, der bei "Saw III" nur noch müde mit den Achseln zuckt.

Landgrenzen. Je abwegiger, umso herrlicher. Inszenierungen, jedes Regietheater in den Schatten zu stellen, Rituale von bizarrer Schönheit, Wartezeiten, die Godot hibbelig machten, Formulare in Hanne-Darboven-Quantitäten. Generell gilt: Je größer die Uniformmützen, desto barocker das Grenzbrauchtum. Von Turkmenistan nach Usbekistan müssen gar per Minibus weitläufige Niemandslandsteppen zwischen den Grenzposten traversiert werden, und ein Offizieller richtet einen Hybrid aus Star-Trek-Phaser und Föhn auf die Stirn des Reisenden, um subversives Gedankengut und/oder Fieber festzustellen.

Die meisten meiner Grenzen absolviere ich allerdings spektakelreduziert per Bahn, nur Turkmenistan ziert sich, rein wie raus. Raus werde ich in einer alten Ambulanz mit römischen Hipstern auf einer Heiopei-Rallye trampen. Rein bringt mich ein grantiger Fahrer, von Maschhad zur Grenzstation in den Bergen. Er liefert mich in einem halbdunklen Gebäude ab, in dem einige wenige Männer - ausschließlich Männer, kurz befürchte ich, eingedenk meiner Maschhader Erfahrungen, versehentlich die Grenze für Männer anstelle der Grenze für Frauen angesteuert zu haben - vor einem großen Flachbildschirm herumlungern.

Ein Zöllner winkt mich beiseite. Ich stelle mich auf schikanöse Kontrollfestivitäten ein, aber nein - er bietet mir einen Tee an, mir die Wartezeit zu versüßen. Viel habe ich weltweit schon erlebt an Grenzen, einen Tee angeboten bekam ich noch nie. 20 Minuten später, auf den sengend sonnigen Metern zwischen iranischen und turkmenischen Grenzposten, zeige ich meinen Pass ein letztes Mal, vor zwei uniformierten Jungspunden mit sehr großen Waffen. Sie hofften, es habe mir im Iran gefallen und ich käme bald wieder, sagen sie und lächeln. Ich reise unter anderem, um mich überraschen zu lassen.

Hast du keine Angst?, lautete die vorab am häufigsten gestellte Frage, gern ergänzt durch die Erkundigung, ob ich denn hoffentlich mein Pfefferspray /ein Messer / die Kalaschnikow / eine Mittelstreckenrakete eingepackt habe. Die zweite Frage heißt: Was willst du denn da? Mal gucken, wie's da ist, sage ich. Und jedes Mal wieder bin ich ein wenig frappiert darüber, wie das mediale Zusammenrücken der Welt die Ängste eher zu schüren als abzubauen scheint. Wenngleich das Prinzip natürlich klar ist: Auch ich würde meine Auflagenhöhe nicht mit Schlagzeilen wie "Heute wieder nix passiert in Kasachstan" erzielen wollen. Mal gucken, wie's da ist, halte ich für ein wirksames Antidot gegen ein vorwiegend auf Muffensausen basierendes Weltbild.

Die geringsten Überlebenschancen wurden mir, als alleinreisender Frau, naturgemäß im Iran eingeräumt - allein aufgrund der Tatsache, dass man die diversen Sonstwostans erst mal bei Wikipedia nachschlagen müsste. Nach vier Tagen in Teheran kann ich bestätigen, die Gefahr ist groß. Vor lauter Beschämung über so viel Herzlichkeit und Gastfreundschaft einfach zu kollabieren. Oder sich bei den permanenten Essenseinladungen - an meinem ersten Abend pflücken mich die Schwestern Nasim und Negar zu diesem Zwecke gar direktemang von der Straße weg - fatal zu übervöllern. Die Achse der Netten. Entgegen der gängigen Vorstellung, Ali Normalteheraner sei den ganzen Tag mit beten, steinigen und Uran anreichern beschäftigt, habe ich auf meiner Reise nirgends so viel Spaß gehabt wie in Teheran. Und gleichzeitig nirgends so viele ergreifende, erschütternde Gespräche geführt.

Die Menschen. Ich reise der Gespräche wegen, unter anderem deswegen reise ich per Bahn. Wie verständigst du dich unterwegs?, ist ein weiterer Evergreen im Fragenkatalog. Och, geht schon, sage ich, und empfinde es bisweilen als für einen Schriftsteller nahezu beleidigend, wie wenig Sprache nötig ist, wenn man sich wirklich verstehen will. Mit Alireza, dem bezaubernden Cousin meines Hamburger Vertrauenspersers, den dieser mir generös auslieh, sitze ich im kleinen Schrein eines Heiligen und/oder Poeten, in dessen Kühle wir Zuflucht vor der Mittagshitze suchten, wir plaudern gedämpft und finden heraus, dass sich selbst ein abstrakter Begriff wie "menschlich" pantomimisch darstellen lässt.

Und wenn's mal wirklich knifflig wird, wenden wir uns an das Handbuch "English for the Iranian Passenger", das Alireza und sein Kumpel Peyman, der noch weniger gar kein Englisch spricht als Alireza (doch, das geht), stets zücken, während wir durchs nächtliche Teheran cruisen, um Mitternacht im ausgelassenen Getümmel des Mellatparks flanieren oder bei den Amüsemang-Attraktionen am Mt. Tochal total beim Bogenschießen versagen und zu feige zum Bungeespringen sind.

Und immer wieder, wenn ich mich mit meinem überaus erbärmlichen Russisch durch Usbeki- oder Kasachstan schlage (die Turkmenen lassen den Touristen nur mit obligatorischer Guide-Begleitung ins Land), taucht in den unwahrscheinlichsten Zusammenhängen jemand auf, der Englisch spricht. Auf der Zugfahrt von Türkistan nach Astana, die ich, handlich gefaltet in die beliebte Yogastellung "Der Maxibrief", vorwiegend im Fach einer Art Billy-Regal verbringe, das parallel zur Zugrichtung an die Wand geschraubt wurde, adoptiert mich schließlich Zhongaya, eine Englischlehrerin, womit ich Teil einer spontanen Reisefamilie werde, ausgiebig ausgefragt und verköstigt mit jeglichem, was die Heerscharen von fliegenden Händlern im Zug so feilzubieten haben, und das ist eigentlich: alles.

In Almaty betrinke ich mich mit Wladimir aus Moskau, der im Cargo-Airline-Management arbeitet und dessen Englisch genauso rudimentär ist wie mein Russisch. Wir unterhalten uns stundenlang, mithilfe von Pantomimen und Serviettenzeichnungen, irgendwann ruft Wladimir einen Freund in Moskau zum Dolmetschen an, der kann zwar auch kein Englisch, aber lustig ist's trotzdem.

Der Zug, drei Tage braucht er von Kasachstan nach China, ist gerappelt voll mit kasachischen Studenten auf dem Weg nach Xi'an, die vergessenes Schulenglisch an mir ausprobieren - oder wir stibitzen einfach einem Zöllner die Mütze und posieren damit, herumalbern lässt es sich stets auch hervorragend wortlos. Ein Girlie bewundert mich und meinen Mut ausgiebig und kann kaum fassen, dass ich keinen Mann mit mir führe.

Ich oute mich stets als ledig und kinderlos, erkläre auf Nachfrage, dass ich viel - und lieber - reise und arbeite.

Keiner, der nicht versteht, dass ich reise. Wenige, die mir meinen Pass, mit dem ich das uneingeschränkt kann, nicht neiden. Viele, zumal der jüngeren Leute, die versuchen, irgendwie ins Ausland zu kommen, zum Studieren, zum Arbeiten, in irgendeines der Länder mit den besseren Pässen. An jeder Grenze wieder besehe ich mir meinen Pass mit Staunen und Ehrfurcht und frage mich, womit ausgerechnet ich ihn und alles, wofür er steht, verdient habe. Gnade der geografischen Geburt. O Schengenraum, O Schengenraum, wie grün sind deine Blätter.

Er müsse es ins Ausland schaffen, sagt Alexej, Elektronik-Ingenieur, nach Deutschland mit dem DAAD, oder Japan, oder Australien, oder Russland, egal wohin, er liebe sein Land, aber hier in Usbekistan habe er keine Zukunft. Wir laufen im Abendlicht einen Bergpfad hinab, sprechen erst über Fotografie, dann über die Welt. Das System sei zu korrupt und kaputt, sagt er, alle seine Freunde bewerben sich auf Postgraduierten-Auslandsstipendien, und er sei schon 26, er habe nicht mehr viel Zeit, aus seinem Leben etwas zu machen. Hier könne er höchstens Lehrer werden, er aber sei Wissenschaftler, als solcher wolle er arbeiten und forschen.

Wir überholen einen jungen Hirten, dessen Familie ihre Zelte weiter oben am Berg aufgeschlagen hat, und zwängen uns an der Schafherde vorbei. Ein Lamm folgt uns blökend bis hinunter zum Zeltplatz, wo Alexej und andere Jungs seines Alters Zelte für die Trekkingtouristen aufbauen, deren Rucksäcke sie morgen über die Berge tragen werden.

In Astana gerate ich an den wohl einzigen perfekt englischsprachigen Taxifahrer Zentralasiens, Asemkhan. Meine Mutter hat die halbe Welt bereist, aber ich bin zu alt, sagt er - er ist 31 -, und habe Frau und zwei kleine Kinder, wären die nicht, ich würde alles daransetzen, ins Ausland zu gehen. Ich verfüge über eine so gute Ausbildung, und jetzt fahre ich Taxi.

Er fährt Taxi, bis vor zwei Wochen noch war er Banker. Das Taxi ist sein eigener BMW. Er liebt BMWs, aber mit Schaltgetriebe, Automatik, das sei doch kein echtes Autofahren. Auf seinem T-Shirt prangt das BMW-Logo direkt über dem Herzen, ein weiteres ziert seine Gürtelschnalle. Hier in Kasachstan habe ich keine berufliche Chance, sagt er, ohne Beziehungen bekomme man keinen Job, und seien die Universitätszeugnisse noch so gut, man könne ein verdammtes Genie sein und würde ohne Beziehungen doch bloß Taxi fahren. Dann will er von mir den Preis für BMWs in Deutschland wissen und ob die Menschen dort glücklich seien.

Welch eine Frage. Als hätte man sich abgesprochen, wurde sie mir überall unterwegs mehr als ein Dutzend Mal gestellt. Das Wort "Freiheit" habe ich in diesen 47 Tagen öfter gehört als in Deutschland während eines ganzen Jahres. Ich habe nicht gewusst, wie ich sie beantworten sollte. Ich sage, wüssten die Deutschen, wie glücklich sie sind, man ertaubte unter dem permanenten ohrenbetäubenden Jubelgeschrei, das durchs Land gellte. Ich denke, Freiheit ist, wahrscheinlich, wie Licht. Man bemerkt sie erst in ihrer Abwesenheit. Aber was weiß ich schon, ich denke, ich weiß nicht viel, deshalb reise ich, in der Hoffnung, vielleicht ein klein bisschen weniger dumm zurückzukehren.

Hast du keine Angst gehabt?, lautet die erste Frage nach meiner Rückkehr. Nö, sage ich und ärgere mich, meines Images wegen, ein wenig, keine heroischen Geschichten vom Drachentöten, Banditenbeschwören, Faustkämpfen mit Finsterlingen oder einem Duell mit Lord Voldemort aufbieten zu können. Stattdessen ließe sich ausufernd darüber berichten, wie übervoll die Welt von Menschen zu sein scheint, die bei jeglichem drohenden Ungemach dem doofen Touristen beispringen, um zu helfen, zu dolmetschen, ihn zu begöschern und zu beschützen - und sei's auch nur vor dem entsetzlichen Schicksal, eine überteuerte Taxirechnung zu bezahlen.

Wie war's?, fragt man als Nächstes, und das ist natürlich etwas schwierig mal eben kurz zu erzählen. Ich erinnere mich daran, wie ich immer wieder innehielt, mich umsah und mir verdeutlichte, dass sich in dieser Straße, diesem Schienenstrang, diesem Ort, an dem ich stehe oder, öfter, sitze, in Gespräche vertieft, ein Punkt meiner roten Linie manifestiert, die sich auf der Karte schier endlos einmal quer durch Eurasien erstreckte. Entlang der Seidenstraße, die nichts anderes ist als der uralte Weg von Europa nach China.

Viele Leute denken, eine solch lange Linie, ich müsse die sieben Wochen ausschließlich im Zug verbracht haben. Nein, sage ich, ich bin eigentlich wenig gefahren, meistens bin ich irgendwo gewesen. Es ist nämlich gar nicht so weit. Es ist eigentlich gleich um die Ecke. In der Nachbarschaft. Hier, auf unserem großen kleinen Planeten, der sich in 47 gemächlichen Tagen schon fast halb umrunden lässt.

Reise-Blog unter www.tina-uebel.de