Spaziergang mit Erzbischof Werner Thissen. Der Hirte, der Heiligabend im TV predigt, über seine Hamburg-Liebe und den inneren Schweinehund.

Hamburg. Für manchen Spätaufsteher mag diese Zeit unchristlich sein, für Hamburgs Erzbischof ist sie Anlass, den Herrn zu preisen. Welch ein famoser Wintertag! Die Uhr hat gerade erst sieben geschlagen. Mit strammem Schritt stapft Dr. Werner Thissen durch den Schnee am Elbufer - dem Sonnenaufgang entgegen. Er freut sich über die Stille am Strom, über Muße in der Morgenstunde. Anlass zum Sinnieren und über das Christfest nachzudenken. Aber auch Stunden der inneren Einkehr, um die vergangenen Monate Revue passieren zu lassen und auf das neue Jahr zu blicken. Mit Blankenese im Rücken führt der Weg weiter Richtung Innenstadt. Heute ist Zeit, ein wertvolles Gut.

Dunkel, irgendwie geheimnisvoll gurgelt die Elbe, die Schaumkronen glitzern in der Finsternis. Ein leichter Schimmer im Osten lässt den Tagesanbruch erahnen. Plötzlich bleibt der Erzbischof stehen: Im Schatten der ausklingenden Nacht sind Aufbauten eines riesigen Containerfrachters aus Fernost zu erkennen. Ein majestätisches Bild, voller Kraft und Betriebsamkeit.

"Ich liebe das Wasser", sagt der katholische Geistliche, "und diesen Fluss ganz besonders." Wer an der Elbe steht, sei schon in der ganzen Welt. Angesichts dieser Erkenntnis erzählt er von einer Dienstreise auf die Philippinen 2008. Als während eines Gottesdienstes die Rede auf die Hansestadt kam, rissen viele Philippinos die Arme hoch und skandierten: "Hamburg, Hamburg!" Offensichtlich waren sie im Freihafen an Land gegangen und verspürten angenehme Erinnerungen an die große Schöne im Norden Deutschlands.

Was ist Ihnen denn aus dem fast abgelaufenen Jahr besonders haften geblieben, Herr Erzbischof? "Die Missbrauchsfälle", entgegnet der Oberhirte von 178 000 Katholiken in Hamburg und knapp 400 000 im gesamten Erzbistum ohne Zögern. Er mache sich Sorgen um die Opfer und freue sich über den Willen, das aufzuklären, was früher unter den Teppich gekehrt worden sei. "Ich bin beschämt, aber auch froh, dass wir dieses Thema angegangen sind", fährt er fort. "Damit es unter diesem Teppich nicht mehr stinkt." Drei Mitarbeiter, ein Theologe, zwei Psychologinnen, sind abgestellt. Die mit diesem Problem verbundene Mühe und der Einsatz zur Klärung "haben mich sehr geschlaucht". Mehr seelisch als körperlich. Sind denn jetzt alle Fälle aufgedeckt? Die Antwort: "Leider wird man nie alles herausbekommen, auch wenn mir sehr daran liegt."

Thissen schreitet voran. Was ist sein Hauptakzent für 2011? "Dass es mir und meinen Mitbrüdern gelingt, mit der christlichen Botschaft einzelne Menschen zu erreichen - auch in sehr persönlichen Gesprächen." Und dass er es schaffe, sich noch mehr Zeit dafür zu nehmen. Regelmäßig führe er intensive Unterhaltungen, die bisweilen Früchte brächten, indes immer bewegten.

Ein Moment Schweigen. Am Anleger Teufelsbrück strömen Menschen aus den Linienbussen und eilen gen Fähre. Erzbischof Thissen spricht einen Mann mit rotem Umhang an, der vor dem Steg Zeitungen anbietet. Der Verkäufer reagiert irritiert, dann erfreut. Offensichtlich redet keiner mit ihm zu so früher Stunde. Der Erzbischof wünscht einen glücklichen Tag, verharrt einen Augenblick und betrachtet das Treiben der Airbus-Angestellten. Auf der anderen Elbseite ist im Morgengrauen ein Düsenflugzeug zu erkennen, das kurz nach dem Start im Dunkel verschwindet. "Das ist mein Hamburg!", sagt der Priester. Zwei Arbeiter mit Signalwesten streuen Sand, sie sprechen Polnisch miteinander. Beide lachen. Ein Fahrradfahrer kommt des Weges. Herzliche Begrüßung, sprich: knappes "Moin!". Wer ahnt schon, dass hier der Erzbischof in aller Herrgottsfrühe auf den Beinen ist. In der Regel steht dieser um fünf Uhr auf, um erst den Leib, später Geist und Seele zu bewegen. Auf dem Trimmrad ("Jedes Mal ein Triumph wider den inneren Schweinehund"), anschließend bei Gebet, Betrachtung, Meditation. Manchmal begibt er sich zu Fuß auf eine stille Stadtwanderung: von St. Georg vorbei an der Speicherstadt und den Landungsbrücken nach Blankenese oder Wedel. So eine Art Marsch ins Innere sei dies. Zufrieden gehe es mit der S-Bahn zurück.

Mittlerweile ist es heller geworden. Hinter einem Schleier aus Dunst ist die Sonne milchig zu erkennen. An den Bäumen funkeln Schnee und Eiskristalle, über die Elbe kann man nun bis Finkenwerder gucken. Es ist ein Bild für Götter. Der Erzbischof holt tief Luft.

+++ Lesen Sie hier die Geschichte auf Platt +++

Am Heiligen Abend wird er die Armen im Haus Bethlehem abseits des Heiligengeistfeldes besuchen, wie immer am 24. Dezember. Um 23 Uhr hält er im Mariendom die Predigt in der Christmette. Sie wird von der ARD live übertragen. Und am ersten Weihnachtstag steht ein Besuch der Kirche St. Joseph in Wandsbek auf dem Programm. Hier feiern auch die katholischen Vietnamesen ihren Gottesdienst. Für Privates bleibt kaum Zeit. "Wichtiger ist die Erfüllung", sagt er.

Dann wird er ernst. Weil der 25. Dezember auch ein Meilenstein zu einem Ereignis ist, das nicht nur die katholische Kirche im Norden 2011 bewegen wird. Denn genau ein halbes Jahr später, am 25. Juni, wird der vier "Lübecker Märtyrer" gedacht. "Jede Zeit hat ihre besonderen Herausforderungen", sagt Thissen. Die vier unbeugsamen Geistlichen, drei Katholiken und ein Protestant, waren am 10. November 1943 von Hitlers Schergen in Hamburg mit dem Fallbeil ermordet worden. "Diese aufrechten Menschen sind Vorbilder", sagt Thissen leise. Zur Gedenkfeier werden auch die Kardinäle Amato und Kasper aus Rom erwartet. Dagegen wird Papst Benedikt XVI. während seines Deutschland-Besuchs 2011 nicht in die Hansestadt kommen. Vielleicht später.

Umgekehrt hat Dr. Werner Thissen das Oberhaupt seiner Kirche vor ein paar Monaten im Vatikan gesehen und gesprochen. Beide kennen und schätzen sich seit Langem. Während Thissens Studium wirkte Ratzinger als Professor. Viel Zeit ist vergangen seitdem.

Erneut bleibt der Erzbischof stehen. Er blickt auf die Elbe, den Strom der Zeit. Immer wieder während dieses Morgenspaziergangs stößt das Thema darauf. "Für mich steht die Elbe sinnbildlich für die Zeit", fährt er fort. Sie fließe dahin. Stetig, kraftvoll, unaufhaltsam. Und mündet in die Unendlichkeit des Meeres, in die Ewigkeit. Da passt es, dass der Theologe an einem Buch arbeitet, das 2011 erscheinen wird. Titel: "Es ist Zeit". Am Beispiel ihm verbundener Gemälde setzt sich Thissen mit Problemen unserer Zeit auseinander.

Eines seien Armut und soziales Gefälle in der Stadt. "Hamburg hat zu wenig preiswerte Wohnungen gebaut", mahnt er. Und die Politik im Rathaus, die ihn sehr bewege, müsse konstanter werden. Dennoch sei Wählen Christenpflicht. Auch am 20. Februar.

Der Erzbischof stoppt und betrachtet einen vereisten Strauch am Ufer. Es ist eine Kopfweide, die an seine Geburtsstadt Kleve am Niederrhein erinnert. Damit sich Thissen in Hamburg heimisch fühle, schenkte seine Nichte ihm ein Exemplar. Heute wächst und gedeiht es im Kirchengarten auf St. Georg. Und in seiner Wohnung neben dem Mariendom tickt eine Wanduhr, ein "Wiener Regulator", im Takt der Zeit. Gekauft hat er sie am 5. November, dem Todestag seines Vaters. Alle Viertelstunde schlägt sie, und einmal in der Woche muss sie aufgezogen werden.

Als auf der Elbe ein weiterer Frachter vorbeifährt, kommt dem Erzbischof Psalm 90 in den Sinn: "Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz." Dann geht Thissen weiter. Bis nach St. Georg ist es noch ein gutes Stück. Nicht nur bis St. Georg ...