Wandsbek-Nartum und zurück: Obwohl sie bei Kaffeefahrten übers Ohr gehauen werden, nehmen viele Senioren öfters den Reisebus nach Irgendwo.

Die versprochene "romantische Busfahrt durch reizvolle Landschaften" mit dem Ziel "Blumenparadies" in Rotenburg/Wümme beginnt morgens um sieben am Wandsbeker ZOB. Die Route führt erst einmal zu mehreren Haltestellen in Jenfeld, Horn und Lohbrügge, dort, wo in den großen Wohnblöcken die kleinen Leute wohnen. Es dauert beinahe zwei Stunden, bis Fahrer Charles, ein freundlicher Deutsch-Chinese, die insgesamt 34 Teilnehmer an dieser "einmaligen Sonderfahrt" eingesammelt hat und die A 1 Richtung Bremen ansteuert. "Man hat ja schon so einiges von Kaffeefahrten gehört, und zwar nichts Gutes", meint Hermann Wiesemann, der mit seinen 70 Jahren dem Altersdurchschnitt der Reisegruppe entspricht.

Dem Rentner, der früher als Zahlmeister zur See fuhr, steht eine Augenoperation bevor, er hat grauen Star. Außerdem geht er am Stock, der Rücken zwickt. Hermann sagt, er wolle sich bloß selbst davon überzeugen, wie man "uns Alte abzockt". Er zieht die "Einladung" des Veranstalters MTF hervor. "Ich habe noch nie bei einem Preisausschreiben mitgemacht, ich kenne die gar nicht, aber die behaupten ganz frech, ich hätte ein Gewinnguthaben."

Die, das ist eine Briefkastenfirma mit Sitz in den Niederlanden namens MTF. Hermann zeigt die "Reisebestätigung", die ihm nach seiner Anmeldung aus dem "Konten-Verwaltungszentrum" zugefaxt wurde, das wiederum im emsländischen Sögel residiert. Er zwinkert listig: "Hier steht 'MTF Guthaben: 1100,00 Euro. Dieser Betrag steht Ihnen, Herr Wiesemann, in vollem Umfang zu. Der Gesamtbetrag wird am Freitag, 12.11.2010 an Herrn Wiesemann übergeben'. Da glaub man dran!"

Hermann hat vier Fläschchen "Boonekamp"-Kräuterschnaps gebunkert, er ahnt dunkel, dass dieser Tagesausflug länger dauern könnte. Immerhin kostet die Kaffeefahrt ihn und die 33 anderen Mitreisenden keinen Cent. Überdies sind sie alle glückliche Gewinner von 1100 Euro. Und freuen sich außerdem auf das kostenlose Frühstücksbüfett und tolle Geschenke: Eine hochwertige Küchenmaschine mit Mix- und Rührwerkzeug plus ein 19-teiliges Topfset für Damen, ein 26-teiliges Bistrobesteck für Herren. Ehepaare kriegen zusätzlich noch eine Friteuse und eine Mikrowelle. Doch fahren heute nur drei Ehepaare mit. Die anderen haben niemanden mehr, der sie später vom Bus wieder abholt.

Nur die wenigsten registrieren, dass Charles nach der Ausfahrt Bockel nicht links in Richtung Rotenburg/Wümme abbiegt, sondern rechts in Richtung des Dorfes Nartum, einst Wahlheimat des Schriftstellers Walter Kempowski und um Punkt 10.36 Uhr an diesem nasskalten Tag das vorläufige Etappenziel der Sonderfahrt. Der Bus hält vor dem Nebeneingang zum Festsaal des Nartumer Hofes, einem beliebten Ausflugslokal sowie Klubheim des ortsansässigen Schützenvereins.

"Jetzt kommt erst einmal die Schau", sagt die 82 Jahre alte Luzia Willms aus Bergedorf. Sie weiß Bescheid, denn für sie ist es nach eigenem Bekunden mindestens schon die 20. Kaffeefahrt. "Einmal hab ich auch was gekauft, aber das muss ich ja nicht. Es ist bloß schön, dass ich mal wieder unter die Leute komme!" Und ihre "Unterwassersprudelmassagematte" für die Wanne von damals für 598 Euro funktioniere noch immer einwandfrei. "Aber die großen Geschenke gibt's nur für den, der was kauft!"

31 Hamburger Senioren und drei Frührentner drängen hinein, um sich die besten Plätze zu sichern und ja nichts zu verpassen.

Für den Diplom-Verwaltungsrat Frank Schuster im Fachdienst Ordnungs- und Gewerberecht des Lahn-Dill-Kreises, seit Jahren Deutschlands hartnäckigster Kämpfer gegen den gewerbsmäßigen Seniorenbetrug, gehören solche "Einladungen", wie Hermann Wiesemann sie erhalten hat, zum bedauerlichen Alltag. Schätzungen der Verbraucherzentralen zufolge werden in Deutschland pro Jahr rund 100 000 Kaffeefahrten veranstaltet, deren einziger Zweck darin besteht, minderwertige Waren zu enorm überhöhten Preisen zu verkaufen. "Zurzeit ist die sogenannte Emsland-Mafia wieder sehr aktiv", weiß Schuster, dessen Behörde seit August 2007 eine bundesweite "Warnliste" im Internet betreibt ( www.lahn-dill-kreis.de ).

Alte Menschen hätten nun mal einen natürlichen hohen Bedarf an Kommunikation und machten sich zudem häufig Sorgen um ihre Gesundheit. "Die Firmen nutzen das aus. Das fängt mit dem Angebot an - Spezialbetten, Rheuma- und Magnetdecken, Trinkkuren, medizinische Badesalze und Reisen zu Dumpingpreisen, die dann selbstverständlich mit weiteren Verkaufsveranstaltungen verbunden sind. Außerdem gehen die Verkäufer psychologisch und rhetorisch äußerst geschickt vor. Nicht selten werden die Ausflügler sogar massiv eingeschüchtert und kaufen dann aus Angst." Schuster schätzt, dass Spitzenverkäufer pro Monat zwischen 15 000 und 50 000 Euro verdienen.

Andreas aus Bremerhaven, angeblich glücklich verheiratet, zwei Söhne - "für euch, meine Lieben, bin ich der Andi!" - sieht nicht gerade wie ein Halbmillionär aus. Auch nicht wie einer, vor dem man Angst haben muss. Sondern wie ein dynamischer Vertriebsprofi eben, mit künstlich gebräunter Gesichtshaut, extraweißen Zähnen, einer schmalen Hornbrille auf der Nase und einem faltenfreien blau-weiß gestreiften Hemd mit asymmetrisch angeordneten roten Knöpfen, die perfekt zu den aufwendigen Stickereien auf den Gesäßtaschen seiner Designerjeans passen. Andi stellt "sein Team" vor, Dennis und Moritz, zwei muskulöse Männer in den 30ern, perfekt rasiert und frisiert. Dennis ist für die Auslieferung der Ware zuständig, Moritz' Auftritt ist erst für den Nachmittag vorgesehen, wenn es um den Verkauf von Reisen geht.

Luzia Willms meldet sich plötzlich: "Und wann fahren wir weiter ins Blumenparadies?" Ihre Stimme klingt etwas ungeduldig. Andi, Dennis und Moritz blicken sich kurz an. Dann sagt Andi rasch: "Also, hier war gerade eine interessante Frage. Also, ich will mal so sagen: Also wenn ihr gleich schön aufpasst, Leute, dann bin ich bis zum Mittagessen durch." Gut zwei Drittel der Anwesenden fangen an zu grinsen. Sie wissen, dass der Zeremonienmeister geschwindelt hat.

Andi wartet geduldig, bis die kostenlose erste Tasse Kaffee ausgeschenkt ist und die beiden Brötchenhälften, die eine mit Gouda, die andere mit herzhafter Mettwurst belegt, verzehrt sind. "Die Brötchen sind ja schon mal frisch", bemerkt Hermann, "dann wird's ja nicht so schlimm werden." Diejenigen, die noch in der Lage sind, sein Urteil zu verstehen, murmeln beifällig, kauen angestrengt, aber fröhlich.

Auf der hufeisenförmig angeordneten Tafel in dem gut geheizten Nebenraum, den eine braune Faltwand vom Festsaal trennt, stehen Bier, Mineralwasser und Zitronenlimo. Zu zivilen Preisen, das Beck's kostet nur zwei Euro. Der Nartumer Hof wird in dritter Generation von der Familie Hoppen betrieben. Doch auch für Gastwirte sind die Zeiten rauer geworden, vor allem jetzt, außerhalb der Saison. Da ist jede Gruppe willkommen. "Wir haben uns nichts vorzuwerfen, denn wir haben mit der Verkaufsveranstaltung absolut nichts zu tun", sagt der Gastronom. Er zuckt die Schultern. "Ich kann nur sagen, dass wir uns bemühen, unseren Gästen ein ordentliches Preis-Leistungs-Verhältnis zu bieten."

Andis Stimme ist etwa so ölig wie die halblangen Haare, die sich in seinem Nacken kräuseln. Er trifft auf Anhieb den richtigen Ton. Eine gute halbe Stunde lang spricht er vom Glück, Arbeit zu haben und seine Familie satt machen zu können - überhaupt jemanden an der Seite zu haben, den man liebt und von dem man geliebt wird. Da nicken die meisten ergriffen, nur Hermann öffnet ungerührt eine Flasche Beck's. Die eigentliche Verkaufsschau ist eine Tour de Force, die mit einer Dekopuppe und einem Teddybären beginnt und sich über ein GPS-Navigationsgerät, einen Akku-Staubsauger bis hin zum Power-Maxx steigert, der aussieht wie eine Personenwaage mit Griffhörnchen. Nur dass die Standfläche vibriert.

Luzia Willms darf den Power-Maxx vor allen ausprobieren. Sie stellt sich vorsichtig drauf, wird ein wenig durchgeschüttelt. "Ui, das kitzelt!", ruft sie. Alle lachen, sogar Hermann. Andi hebt die Hand. "Wir sagen nie Heilung!", ruft er. "Wir sagen: Verbesserung der Lebensqualität!" Und doziert geschlagene 15 Minuten kenntnisreich über Durchblutungsstörungen, erschlaffende Muskulatur und Osteoporose. Das trifft den Nerv, denn die Anwesenden kennen diese Symptome. Dabei unterbricht Andi seinen Vortrag ständig selbst mit rhetorischen Zwischenfragen: "Ist das nicht etwa korrekt, Leute? Ich mache hier nur meine Arbeit!" Erst wenn alle im Kollektiv genickt haben, sagt er: "Das ist doch einen Applaus wert, Leute!"

Der Beifall wird von Viertelstunde zu Viertelstunde stärker, die Stimmung immer ausgelassener, ein bisschen wie im Kasperletheater. Und entgegen anderslautenden Gerüchten "wird hier niemand eingesperrt!", schreit Andi, "jeder kann auf die Toilette oder zum Rauchen gehen, wann er will! Hier gibt es keinen Zwang. Ich mache hier nur korrekt meine Arbeit!"

So manch einer ordert mutig eine zweite Tasse Kaffee. Obwohl die nicht mehr gratis, sondern für 1,40 Euro zu haben ist. Der Power-Maxx kostet 798,60 Euro mehr, verrät Andi nach bohrenden Nachfragen aus dem Publikum. Doch dieser fantastische Schnäppchenpreis, der lauter ungläubige "Ohs" und "Ahs" hervorruft, ist nur die Ouvertüre zum großen Finale, das freilich erst gut 90 Minuten später über die Bühne geht, kurz vorm Mittagessen: Es ist die Präsentation der "Königskur", eines Wunderelixiers, entwickelt von einem Nobelpreisträger, bekannt auch unter dem Namen Q-10-Therapie. Andi bezeichnet das Nahrungsergänzungsmittel, das aus lauter gesunden Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen zusammengesetzt ist, als "Rohrreinigung, auf Deutsch gesagt".

Dann präsentiert er zwei Briefumschläge, aus denen er quälende 20 Minuten lang 700 Euro "Sofortrabatt" in druckfrischen 50ern fummelt. Erst nachdem sich Luzia zum zweiten Mal, diesmal jedoch zaghafter, meldet "weil sie Zucker habe und deshalb dringend mal was essen müsse", gibt Andi verständnisvoll "Butter bei die Fische" und macht eine Rechnung auf, die alle verstehen: "Der reguläre Preis beträgt 3100 Euro. Wir bieten die Q-10-Therapie aber für ... (rethorische Pause) 1598 Euro an, minus den Rabatt von 700 Euro macht 898 Euro. Und den Power-Maxx für 800 Euro gibt es gratis dazu!" Plötzlich geht alles ganz, ganz schnell.

In der Mittagspause werden die ernsthaften Interessenten diskret in einer dunklen Ecke des Festsaals von Andi und seinem Team bearbeitet. Einer nach dem anderen. Es sind wohl Kaffeefahrten-Neulinge, die noch nicht wissen, dass ähnliche Produkte in der Apotheke für unter 50 Euro und im Internet sogar schon für unter 30 Euro zu haben sind. Niemand verrät, ob er zugeschlagen hat oder doch standhaft geblieben ist. Trotz der Geschenke als Zugabe.

Die anderen Mitreisenden lassen sich die Erbsensuppe für 5,50 Euro und das Hähnchenschnitzel für 6,90 schmecken. "Wenigstens das Essen ist sein Geld wert!", sagt Hermann anerkennend. Luzia setzt hinzu: "Und der Andi ist lustig. Nicht so lustig wie der Spanier neulich, aber er macht seine Schau sehr unterhaltsam." Kaufen wird sie erst später was, als es schon wieder dunkel wird, draußen. Drei Flaschen Aloe-Vera-Lotion zum Preis von zweien für 15 Euro, weil das alle kaufen.

Bloß Hermann kauft nichts. Er findet, nun sei es an der Zeit, seinen Hauptgewinn anzusprechen. Er würde die 1100 Euro gern in bar mitnehmen, so wie versprochen. Eins, zwei, fünf Augenpaare blicken interessiert auf. Die erfahrenen Tagesausflügler schütteln die Köpfe. Andi lächelt, aber keineswegs verlegen. "Du glaubst also, ich hab hier mehr als 40 000 Euro in der Tasche?" Hermann sieht Andi fragend an. Er wartet auf eine Erklärung. Der Verkäufer erklärt ebenso seufzend wie wortreich, dass es sich dabei um ein Guthaben handele, das jeweils beim Erwerb verschiedener Produkte auf den Kaufpreis angerechnet werden könne. Hermann versucht zu widersprechen, aber Andi kann auch anders: "Es gibt hier jemanden, der hat mich die ganze Zeit nicht einmal angeguckt, sondern mir den Rücken zugedreht! Dabei versuche ich nur, meine Arbeit korrekt zu tun!" Dabei schaut er Hermann nicht an. Aber jeder weiß natürlich, wer gemeint ist. Wer der Spielverderber ist. So winkt Hermann nach einer Viertelstunde ab. Er braucht jetzt erst einmal einen "Boonekamp". Eine Frau flüstert: "Der macht uns die ganze Stimmung kaputt!" Die anderen, die wohl auch nicht wussten, wie der Hase läuft, halten lieber die Klappe. Denn jetzt tritt Andi ab und Moritz auf.

Der Rest ist schnell erzählt: Bis kurz vor sieben "verschenkt" die Firma noch ungefähr 40 Sechs-Tage-Busreisen nach Paris, Prag, Leningrad und Amsterdam im Wert von jeweils 207 Euro. Jeder kriegt zwei Reisen, wenn er will - und wenn er 118 Euro für das dazugehörige Pluspaket auf den Tisch blättert; für die Bearbeitungsgebühr, eine Reisegepäckversicherung und eine Reiserücktrittsversicherung. Als alle Formalitäten erledigt sind, rollt Fahrer Charles mit dem Bus auf den Hof. Eilig werden noch ein paar kleine Abschiedsgeschenke verteilt. Dann geht es direkt zurück nach Hamburg. Das "Blumenparadies" in Rotenburg/Wümme hat da längst geschlossen, was Luzia sehr schade findet. Aber vielleicht schafft sie es ja beim nächsten Mal.