Roman Maruhn, 39, ist Politologe, Italien-Experte und lebt in Palermo.

1. Hamburger Abendblatt:

Obwohl Silvio Berlusconi im italienischen Parlament keine Mehrheit mehr hat, konnte er die entscheidende Vertrauensabstimmung gestern für sich entscheiden und Neuwahlen abwenden, wieder einmal. Warum gelingt es ihm immer wieder, an der Macht zu bleiben, auch und gerade in brenzligen Situationen?

Roman Maruhn:

Diesmal wurden einigen Abgeordneten offenbar gute Angebote gemacht, um sich ihre Stimmen zu sichern. In Italien gibt es mittlerweile einen regelrechten Markt für politische Stimmen mit Gegenleistung. Der Ministerpräsident selbst lebt diese Mentalität vor, indem er ein politisches Profil entwickelt, das zuvorderst Eigennutz und persönliches Machtkalkül zum Ziel hat. Politische Kultur wird so systematisch zerstört.

2. Laut Umfragen würde Berlusconis Partei im Verein mit der Lega Nord wohl auch Neuwahlen gewinnen. Wie erklären Sie sich, dass der Mann, den sie "Cavaliere" nennen, trotz zahlloser Skandale so populär ist?

Maruhn:

Tatsächlich kommt seine Partei auf rund 20 Prozent der Stimmen, durch das von ihm selbst maßgeschneiderte Wahlgesetz könnte das allerdings für einen Wahlsieg reichen, sofern seine Popolo della Libertá stärkste Partei bleibt. Vor allem aber haben sich die Bürger weitenteils mit Berlusconis Politikstil abgefunden. Die ethischen Erwartungen an politische Akteure sinken stetig, zugleich ist eine steigende Feindseligkeit gegen die "Politik per se" zu beobachten. Viele Italiener sehnen sich nach einem starken Führer. Berlusconi ist der einzige Kandidat.

3. Weshalb schafft es niemand, sich als glaubwürdige Alternative anzubieten?

Maruhn:

Wenn überhaupt, dann hat der Ex-Richter Antonio di Pietro das Zeug dazu, der "Berlusconi der Opposition" zu werden. Da Berlusconi das Land aber zu einer Art primitiver Fernsehdemokratie umgelenkt hat, in der er selbst die maßgeblichen Kanäle und Meinungen dirigiert, ist es sehr schwierig, sich einer breiten Wählerschaft als Alternative zu empfehlen. TV-Information wird allenthalben reduziert, gefiltert, zensiert.

4. Inwiefern lässt sich sagen, dass sich im Premier die Mentalität seines Wahlvolks spiegelt?

Maruhn:

Es ist ein Wechselspiel. Klientelismus ist den Italienern seit römischer Zeit vertraut, es herrscht eine andere Selbstverständlichkeit von Korruption, die sich mit der Idee starker Familienbande durchaus verträgt.

5. Wie gefährlich ist das Phänomen Berlusconi für die italienische Demokratie?

Maruhn:

Verheerend. Die Lehre lautet, dass es sich nicht auszahlt, den Rechtsstaat zu respektieren. Die jüngsten Ausschreitungen in Rom zeigen: Die Spaltung im Land ist tiefer denn je.