25 Jahre “Lindenstraße“ - der Literaturhauschef Rainer Moritz über Mutter Beimers Maultaschen oder wie er Halt in seinem Leben fand.

Meine Tante Maria in der Oberpfalz habe ich seit Jahren nicht mehr besucht, meinen Bruder erreiche ich nur telefonisch, und was meine Schwester macht, lasse ich mir von meiner Mutter erzählen, die ich nicht sehr oft sehe. Zerstreut sind viele meiner Lieben, und eigentlich müsste ich unter dem leiden, was Soziologen die Vereinzelung in der anonymen Großstadtwelt nennen. Doch so leicht bin ich nicht aus der Bahn zu werfen. Ich brauche keine Facebook-Freunde, um mich geborgen zu fühlen, denn ich habe die " Lindenstraße ", seit nunmehr 25 Jahren.

Was haben Sie am 8. Dezember 1985 gemacht? Damals, als man Kanzler Kohl für eine vorübergehende Erscheinung hielt, der Franzose Claude Simon den Literaturnobelpreis erhielt, eine Gruppe namens Modern Talking die Ohren der Menschheit mit "Cheri, Cheri Lady" quälte und der 17-jährige Boris Becker Wimbledon gewann? Ich weiß genau, was ich an diesem Sonntag um 18 Uhr 40 tat: Ich saß in der schwäbischen Landgemeinde Kiebingen vor dem Fernsehgerät und führte mir die erste Folge der "Lindenstraße" zu Gemüte. Als notorischer Anhänger von Robert Strombergers "Die Unverbesserlichen", "Bonanza" oder "Die Leute von der Shiloh-Ranch" stand und stehe ich Serien mit Sympathie gegenüber, ohne dass ich damals glaubte, dass Hans W. Geißendörfers um die Münchner Familie Beimer gebauten Sonntagsfolgen eine lange Lebenszeit beschieden wäre.

Zum Glück kam alles anders. Über 1300 Folgen sind es bislang geworden, von denen ich nur wenige verpasst habe. Niemand wagt es, meine Sonntagabendfreude zu stören. Telefonate nehme ich in dieser Zeit nicht entgegen, und ein Ende meines Serienglücks ist dankenswerterweise nicht abzusehen.

Der Fels in der Brandung, die Freunde, die immer wiederkehren

Die "Lindenstraße" gibt Halt im Chaos des Daseins, denn sie lässt uns hoffen, dass nicht alles dem Untergang geweiht ist, dass es Beständiges gibt. Wer Fernsehserien als Selbstverständlichkeit in den Alltag integriert, spürt die physiognomischen und mentalen Veränderungen seiner Helden nur unmerklich - so wie man sich selbst unbeirrt als forschen Haudrauf sieht, der ohne Haartönung und Rheumapflaster auskommt. Die schrecklichen Wandlungen tun sich erst auf, wenn man einst vertraute Gesichter nach Jahren wiedersieht oder wenn man die opulente "Lindenstraßen"-Homepage durchforstet und mit Wehmut erkennt, dass früher alles vor allem jünger war.

Dann erst sieht man ungläubig, wie klein Klausi Beimer war, wie viele Pfunde er und die Nervensäge Iffi Zenker zugelegt haben und wie aus der feschen Gaby eine patente Filialleiterin wurde, die selbst Hörprobleme zu überwinden weiß und im Lauf der Jahre unglückselige Techtelmechtel mit kaltherzigen Hauseigentümern oder hasenfüßigen Postboden durchlitt, ehe sie in die Arme ihres resoluten Taxifahrers Andi zurückfand.

Das reale Leben lässt sich freilich nicht immer ausgrenzen, und wenn der Sensenmann kommt, verschont er auch verdiente Seriendarsteller nicht. Joschi Bennarsch, Lydia Nolte nebst Tochter Bertalein, Alt-Nazi Onkel Franz, Egon und Else Kling (unvergessen!), ... sie alle sind (nicht immer freiwillig) dahingegangen, und sie verleihen diesem Flickenteppich-Ensemble die für alle große Kunst notwendigen Farben der Melancholie: "... ganz wie die ersten gelben Blätter der Bäume, wenn man glaubte, noch mit einem langen Sommer rechnen zu können, und - bevor man angefangen hat, ihn recht zu nutzen - feststellen muss, dass es Herbst geworden ist." (Marcel Proust)

Nicht immer ist es der (Serien-)Tod, der geliebte Darsteller aus unseren Herzen reißt. Ich zum Beispiel trauere bis heute jener Angelika Kur nach, die außer mir vermutlich niemand mehr kennt und die in den Folgen 40 bis 49 (anno 1986) Franz Schildknecht erst im Haushalt und dann im Bett aushalf, ehe sie von unbedarften Drehbuchtätern aus dem Skript gestrichen wurde. An Angelikas Seite - davon bin ich überzeugt - wäre Franz nicht dem Alkohol verfallen, hätte nicht begonnen, gruselige Bilder zu malen, und hätte 1992, in Folge 369, den Tod durch Erfrieren vermieden. Für eine Reanimation Angelikas ist es nun zu spät. Ihre wunderbare Darstellerin Franziska Grasshoff wechselte zu Privatsendern und verstarb 1999. Das, verehrter Herr Geißendörfer, verzeihe ich Ihnen nie.

Bei anderen Figuren hege ich noch Hoffnung - Hoffnung darauf, dass sie irgendwann wieder aus dem Orkus des Vergessens auftauchen werden. Nein, ich meine nicht Til Schweiger alias Jo Zenker, der meinetwegen in Hollywood oder Babelsberg bleiben soll. Ich dachte zum Beispiel eher an Erich Schillers Tochter Pat, eine ausgewiesene Männerverschlingerin, oder Marion Beimer, die erst von Ina Bleiweiß und dann von Ulrike Tscharre gegebene Tochter, die - da werden mir viele zustimmen - aus dem blöden Frankfurt an der Oder zum Schweizer Reisekaufmann und Eventmanager Alexander zurückkehren soll, zumal dessen aktuelle Gefährtin, eine der frühreifen Stadler-Töchter, ohnehin entschieden zu jung für ihn ist. Marion Beimer, das war eine vielversprechende, selbstbewusste Frau, der es mitunter sogar gelang, ihrer gluckenhaften Mutter in die Parade zu fahren.

Was bleibt am Ende eines Lebens? Berta, Erich und Hansemann

Beruhigung und Schrecken - das verheißen jene knapp 30 Minuten. Ehen gehen auseinander, Freunde ziehen weg, und überhaupt ist man oft viel zu erschöpft, um wie in jungen Jahren die zahllosen Sozialkontakte in der realen Welt aufrechtzuerhalten. Wie entspannend ist es da, sich mit Hajo Scholz, mit Doktor Dressler, den Zenkers, Herrn Gung und der reizvollen Angelina Buchstab (was für ein Name!) anzufreunden, ohne wirklich von ihnen behelligt zu werden.

An Katastrophen mangelt es nicht. Abtreibung, Spielsucht, Selbstmorde, Vergewaltigung, Magersucht, Afghanistan, Aids, Teenagerschwangerschaft, Kokainschmuggel, islamistischer Terror, Salmonellen - was wahre Lebensfreude eindämmt.

Routinierte Serienschauer wie ich nehmen den sozialliberalen Besserwisserduktus der "Lindenstraße" nicht ernst und wissen um die Berechenbarkeit der Ereignisse. Dass mit dem Griechenwirt Vasily und seiner kölschen Sandra alles gut ausgehen wird, lag früh auf der Hand, und nie zweifelte ich daran, dass Dr. Ernesto Stadler nicht zur unglückseligen Bäckerliesel Ines passt. Stattdessen hoffen wir nun darauf, dass er und seine Schwägerin, die fesche Politesse Maria, bald zueinanderkommen und für neues Durcheinander sorgen, während die Brezelverkäuferin voraussichtlich dem Irrsinn anheimfällt und sich nach dem verschollenen Gatten, dem rechtsradikalen Weißwurstekel Olaf, zurücksehnen wird.

Momo und die Arzthelferin Lisa sind verzichtbar

Wer mit der "Lindenstraße" älter geworden ist, hat Vorlieben und Abneigungen entwickelt. Ich für meinen Teil würde Momo, dem meist missgelaunten Problemvater, und den Quälgeist-Kindern der Serie keine Träne nachweinen. Und wenn es die stets zum Kriminellen neigende Arzthelferin Lisa auf die Schwäbische Alb verschlüge, hätte ich gegen diese Form des Ausscheidens nichts einzuwenden. Unverzichtbar hingegen sind viele: Schlaftablette Hans Beimer, seine alterslose Gemahlin Anna, die selbst im Gefängnis nichts von ihrem fragilen Charme verlor, der gnadenlose Patriarch Dr. Dressler, Tanja Schildknecht, die kein Glück in der Liebe, aber einen florierenden Friseursalon hat, und natürlich der von Harry Rowohlt trefflich gegebene Penner, der zeigt, dass zumindest im Fernsehen das Obdachlosendasein gar nicht so schlimm ist. Und alles wäre nichts ohne Mutter Beimer, das Fundament der "Lindenstraße". Unvergessen, wie sie - ehe sie Erich Schiller ehelichte - einst ihrem Hansemann Maultaschen zubereitete und sich bis heute in der Verzweiflung schmerzlindernde Spiegeleier brät. Darauf könnte ich nicht verzichten, und wenn ich es recht überlege, sieht die gut frisierte Mutter Beimer meiner Mutter ähnlich, irgendwie.

"Tief ist der Brunnen der Vergangenheit" (um auch Thomas Mann zu Wort kommen zu lassen). Bereits jetzt bereite ich mich seelisch auf den Dezember 2035 vor, wenn das halbe Jahrhundert voll sein wird. Tattrig werde ich dann alle Avancen meiner Mitbewohnerinnen im Heim ignorieren, sobald der Zeiger der Uhr auf die magische Sonntagabendstunde zusteuert. Ich werde mich in mein Zimmer schleppen und den All-in-one-Computer herausholen, um keine Sekunde der Jubiläumssendung zu verpassen.

2035 - was wird dann sein? Vielleicht regiert Schwarz-Grün wieder; die Elbphilharmonie blickt auf, sagen wir, fünf Spielzeiten zurück, und ich starre auf meinen Bildschirm und winke Mutter Beimer zu, die dann schon sehr alt, aber immer noch unverzichtbar sein wird. Ihren Erich hat sie längst zu Grabe getragen, und Marion ... aber von der sprach ich ja schon. So leicht bringt uns auch in den nächsten Jahren nichts auseinander, Helga Beimer und mich ...

Rainer Moritz leitet das Literaturhaus Hamburg und ist Autor. Zuletzt erschienen "Die schönsten Buchhandlungen Europas" und der Roman "Madame Cottard und eine Ahnung von Liebe"