Eine Glosse von Matthias Iken

Willkommen im "Chaos". Wenn Sie es noch nicht bemerkt haben, Sie sind mittendrin. Denn kaum fallen die ersten Schneeflocken in der Stadt, halten manche Medien den Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung für erreicht, kurzum also die Chaos-Definition für erfüllt. Allerdings sei die Frage erlaubt, wer oder was da eigentlich verwirrt ist?

Um den Berufsverkehr in der Hansestadt in Unordnung zu stürzen, bedarf es keiner zwei Zentimeter Schnee. Da reichen für gewöhnlich wahlweise ein schwerer Regenschauer, die Schlaglöcher aus dem vergangenen Winter, die sogenannte Koordinierungsstelle Baumaßnahmen Hauptverkehrsstraßen KOST oder ein paar Winsener auf der Durchreise. Auch die Bahn, die seit der Privatisierung Pünktlichkeit offenbar für einen alten Zopf hält, freut sich über Eis und Schnee - dann kann sie von sich auf eine höhere Gewalt verweisen.

Komischer als Schnee im Dezember ist schon, warum jeder das Wetter schon für ein Argument hält. Denn der Wechsel der Jahreszeiten ist uraltes Volksschulwissen, Lernstand erste Klasse. Es gibt den Frühling, den Sommer, den Herbst und - ach Mensch - den Winter. Diese skurrile Jahreszeit, die wir unter unseren Heizpilzen und in der Hitze des Treibhauseffektes ganz verdrängt hatten. Diese Jahreszeit, zu der früher Schnee und Eis gehörten - und heute die Erregung über das "Chaos".

Früher redete zwar auch jeder übers Wetter, aber nun eskaliert das Geschwätz auf allen Kanälen: Jeder Lautsprecher schreibt, sendet, plaudert, filmt, bloggt und twittert drauflos. Und weil jeder auffallen möchte, muss alles immer dramatischer werden. Jenseits des Gefrierpunktes fängt Grönland an, Schneeverwehungen drohen schon bei Graupelschauern und jede Ostwindbrise wird zur Unwetterlage. Möglicherweise liegt das Chaos gar nicht draußen vor der Tür - sondern das Chaos, das sind wir.