Dr. Manfred Lütz, 56, Chefarzt, Theologe, Autor des Buches “Irre! Wir behandeln die Falschen. Eine heitere Seelenkunde“.

1. Hamburger Abendblatt:

Jede zweite Frau und jeder dritte Mann wird nach Hochrechnungen der Barmer Ersatzkasse im Alter an Demenz erkranken. Wie sicher sind solche Prognosen?

Manfred Lütz:

Sie sind mit einem gewissen Unsicherheitsfaktor belastet. Wir haben bei der Frage des Bevölkerungszuwachses immer Vorhersagen korrigieren müssen. Dennoch werden die Menschen älter und deswegen gibt es mehr Demenzkranke. Wir wissen aber nicht genau, ob die Altersentwicklung wie erwartet fortschreitet.

2. Ist eine Demenz durch richtige Vorsorge zu verhindern oder wenigstens hinauszuzögern?

Lütz:

Es gibt Medikamente, die bei beginnender Demenz die Entwicklung hinauszögern können. Was sonst empfohlen wird an Maßnahmen ist wissenschaftlich fragwürdig. Ich rate von Aktionismus ab. Man sollte seinen Alltag nicht mit Diäten und ständiger Bewegung ausfüllen und dadurch das eigentliche Leben verpassen.

3. Gehört denn die Demenz zwangsläufig zu einem hohen Alter dazu?

Lütz:

Nein, es gibt Menschen, die sehr alt sind und keine Spur von Demenz zeigen. Nicht jedes Desinteresse im Alter deutet auf eine Demenz. Wir brauchen aber eine gesellschaftliche Debatte über den Wert des Alters. Nur eine Gesellschaft, die das Alter ehrt, ist eine glückliche Gesellschaft. Ein 16-Jähriger, der ins Dunkel seiner Lebenszukunft schaut, verzweifelt schnell. Wenn das Alter geehrt wird, freut er sich auf die Zeit, in der er alt und lebenssatt sein wird. Demenz ist im Übrigen keineswegs nur ein schrecklicher Zustand.

4. Sie wollen sagen, Demenz sei nicht so furchtbar, wie viele denken?

Lütz:

Es gibt sogar Menschen, die sich durch die Demenz positiv verändern, die vorher unsympathisch waren und erst durch ihre Krankheit liebevoll geworden sind. Es wäre zwar unsinnig, die Demenz zu verklären. Aber Demenz nur als schrecklich zu betrachten, zumal das häufig mit einer Abwertung des Alters verbunden ist, produziert am Ende eine unglückliche Gesellschaft. Wir müssen lernen, das Gute am Schlechten zu sehen. Der Demente erlebt die Gegenwart sehr bewusst. Daran mangelt es doch vielen, die nur noch von Termin zu Termin hetzen.

5. Aber sind nicht die fehlenden Pflegemöglichkeiten das Schreckliche?

Lütz:

Das Schreckliche ist, dass immer mehr in Lebensabschnittspartnerschaften leben und im Alter dann allein sind. Die Pflege durch Angehörige, die früher selbstverständlich war, wird es so nicht mehr geben. Darauf zu reagieren mit dem Spruch 'Ich möchte nicht auf die Hilfe anderer angewiesen sein', ist aber dumm und zynisch. In Wirklichkeit sind wir alle immer auf andere Menschen angewiesen. Der Demenzkranke braucht eben noch ein bisschen mehr Hilfe.