Herrn Ahlhaus würden sie nicht aufnehmen, er trat aus einer Burschenschaft aus. Schlagende Verbindungen, Parallelwelt mit Eliteanspruch.

Hamburg. Dietmar* hat 106 Stiche. Nadelstiche, mit denen seine Wunden genäht wurden. Der Mann von der Hamburger Burschenschaft Germania Königsberg hat Schmisse an Kinn, Schläfe, Wange, und auf dem gesamten Schädel. Früher waren solche Narben Statussymbole, für manche Burschen sind sie es auch heute noch. Allein der markante Schmiss auf Dietmars linker Wange wurde mit sechs Stichen genäht, erklärt der Diplomkaufmann, 35. Nicht im Krankenhaus, sondern gleich vom "Paukarzt" am Ort des Gefechts. "Scharfe Mensur" nennen die schlagenden Korporationen - Burschenschaften, Corps, Turner- und Landsmannschaften - den Vollkontakt-Kampfsport, der für Mitglieder Eintrittskarte und Pflicht ist.

Die scharfe Mensur schrecke unliebsame Mitbewohner, Mitläufer und Pöstchenspekulanten ab. Sie stärke Selbstbewusstsein und Selbstbeherrschung. Wer sie bestehe, sei für viele Herausforderungen des Lebens gewappnet, glaubt Dietmar.

Statt fechten sagen die Burschenschafter "pauken". Das Schwert mit der 84 bis 88 Zentimeter langen, 300 bis 350 Gramm schweren beidseitig geschliffenen Klinge ist der "Schläger". Das Duell eine "Partie". Wer den Gegner am Kopf trifft, "sticht ihn ab", wer einen Schmiss abbekommt, wird "abgestochen". Es gehe um "Ritterlichkeit", um die "Meisterung der Furcht". Wer auch nur einen Schritt zurückweiche, müsse zur "Reinigung" (Wiederholungspartie) antreten. Macht er wieder keine gute Figur, folgt die "Generalreinigung" (letzte Strafpartie). "Ist er auch dort nicht standhaft, fliegt er aus der Verbindung", erklärt Dietmar.

Es ist in mancherlei Hinsicht nicht so einfach, Männer schlagender Verbindungen zu verstehen. Rund 1200 Studentenverbindungen gibt es in Deutschland, in Hamburg sind es 24. In etwa 400 wird gefochten, in Hamburg in zwölf. In Burschenschaften gehe es viel um Politik, bei Turner- und Landsmannschaften mehr um die Gemeinschaft, bei Corps wie dem in der Pöseldorfer Magdalenenstraße ansässigen "Albertina" - die Mitglieder rekrutieren sich unter anderem aus dem ostelbischen Landadel - oft nur ums exzessive Besaufen, um Fahnen anderen Verbindungen zu klauen oder sonst wie in der Stadt über die Stränge zu schlagen. Nicht zufällig hängt über dem Eingang des Verbindungshauses eine Fahne mit überschäumendem Bierhumpen.

Die traditionsbehafteten, oft abgeschotteten Verbindungen agieren in einer Art Parallelwelt. Sie sehen sich als Hüter alter Werte und Riten, sind über mehrere Generationen vernetzt und fühlen sich als Elite. Steuer- und Unternehmensberater, Richter, Rechtsanwälte, Ingenieure, Volkswirte, Ärzte, Offiziere, Bank- und Versicherungsmanager sind später ihre typischen Berufe.

Studenten ("aktive Burschen") zahlen meist rund 400 Euro Mitgliedsbeitrag pro Jahr. "Alte Herren" um die 800 Euro. Nach oben gibt es keine Grenzen. Ihr Wahlspruch: "Freiheit, Ehre, Vaterland", ihr Frauenbild ist oft von gestern und ihre politische Gesinnung eher stramm konservativ als schräg links.

Die Schmisse seien schon so etwas wie ein Erkennungszeichen, sagt der Germania-Königsberger Dietmar, Seitenscheitel, frisch rasiert, ausnehmend freundlich, jedoch auch immer genauestens auf seine Worte achtend. In Hemd, Sakko und Krawatte führt er durchs Haus. "Ich stehe im Freundes- und Kollegenkreis dazu, Burschenschafter zu sein. Im Gegensatz zu Bürgermeister Christoph Ahlhaus, der ja auch bis vor wenigen Monaten assoziiertes Mitglied einer Verbindung war und erst kurz vor seiner Wahl auf Druck von außen ausgetreten ist und sich distanziert hat. So jemanden würden wir in unserer Burschenschaft gar nicht haben wollen." Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) war auch bis Ende der 90er-Jahre in einer Verbindung, sein Parteikollege und Verkehrsminister Peter Ramsauer, EU-Energiekommissar Günther Oettinger, Hans-Peter Uhl, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und der Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs sind es noch immer. Auch Rezzo Schlauch (Die Grünen) war Burschenschafter. "Meine Mitgliedschaft in der Saxo Silesia hatte für mich keinen politischen Aspekt, vielmehr habe ich hier gute Zeiten erlebt, in denen sich gute Freundschaften entwickelt haben", sagte der Grüne dem Magazin der Freiburger Uni.

Dietmar ist seit knapp zehn Jahren dabei. Wie er dazu kam? "Ich war auf Wohnungssuche, fand in der Uni einen Zettel, klingelte am Verbindungshaus und wurde gleich auf ein Bier hereingebeten." Das Zimmer war noch frei, für 130 Euro warm. Ihm gefielen die Leute - und er entsprach den Anforderungen: Er war Deutscher, hatte Abitur und den Bundeswehrdienst nicht verweigert. Gefärbte Haare, Piercings, zerrissene Jeans und bunte T-Shirts seien nicht erwünscht, korrektes Auftreten, vernünftige Umgangsformen schon. Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit würden großgeschrieben in der Wertegemeinschaft, sagt Dietmar.

Er bekam Band und Mütze der Studentenverbindung, wurde "aktiver Bursche", fand großen Gefallen am Fechten, übernahm den Job als Schriftführer, organisierte "Kneipen" (Veranstaltungsabende mit Vorträgen, Hausmusik und Bierausschank) und Bälle im Hotel Atlantic. "Als Burschenschafter lernt man Verantwortung zu übernehmen. Durch das Fechten habe ich zudem meine Grenzen ergründet, gelernt, auch in Extremsituationen ruhig und zielorientiert zu bleiben, mutig durch eine unangenehme, gefährliche Sache zu kommen. Nach den Mensuren haben für mich jedenfalls andere Stresssituationen wie Prüfungen und Verhandlungen stark an subjektiver Bedrohlichkeit eingebüßt", resümiert Dietmar.

Das Verbindungshaus der Germania Königsberg in der Heimhuder Straße, in dem sechs Studenten wohnen, ist eine weiße Villa mit zwei Etagen, begehbarem Dach und großem Garten in bester Lage, zwischen Mittelweg und Rothenbaumchaussee. Frauen dürfen nicht einziehen, aber übernachten. Selbstverständlich nicht jede Nacht eine andere.

Oben im Paukraum trainieren Bernd, 29, Geografiestudent kurz vor dem Examen, und Simon, 21, ein wenig Fechttechnik. Weil Simon kleiner ist, steht er auf einer Bierkiste. Die Szenerie ist skurril. Es riecht nach Schweiß, Leder und Spaghettisoße - gleich neben dem Raum ist die Küche. Beide Fechter tragen Handschuhe, Kettenhemd, gepolsterte Leder-Schutzmäntel, Helm mit Visier. Eine tägliche Trainingsstunde wird von den aktiven Burschen erwartet. Sonnabend und Sonntag ist frei. "Wer lasch trainiert, kriegt bei der nächsten scharfen Mensur garantiert eine Hackfresse", sagt Simon. Er spricht aus Erfahrung. Doch auf seine Schmisse ist er stolz.

Nach dem Training geht's runter in die Kellerbar. Martin, Jörn, Sebastian, Torsten, dessen Freundin Jana, Dieter und Norbert trinken schon Bier. Der Jüngste ist 20, der Älteste 67: Norbert, Alter Herr und ehemaliger Professor für pädagogische Psychologie an der Hamburger Bundeswehr-Universität. Mehrmals im Jahr besuche er das Verbindungshaus, trinke Pils und höre sich an, wie die Jüngeren so ticken. "Kontinuität in persönlichen Beziehungen, das ist uns wichtig", sagt der Barsbütteler Pensionär am Tresen stehend.

Schwarz-weiße Fotos zieren die Wände der Kellerkneipe. Es wird geraucht, das Jever kostet 80 Cent. Was hier unten sonst noch passiert? "Munter netzwerken, Reise- und Karrierepläne schmieden, philosophieren, über Politik streiten. Und natürlich ein paar Trinksprüche zum Besten geben", sagt Jura-Student Jörn und hebt das Glas: "Ein Schmollis der Ganzen. Sei mir ein guter Freund." In Zeiten der Ellenbogengesellschaft sei die "positive Seilschaft", die verschworene Gemeinschaft, ihr großer Trumpf. Da ist die ganze Runde sich einig. Wer Probleme habe, dem werde geholfen. Wer etwas suche, für den finde sich was. Am späteren Abend zieht die Gruppe um Dietmar zum Lieblings-Chinesen am Hauptbahnhof. Richtig scharfes Zeug essen.

Ortswechsel. Das Verbindungshaus der Turnerschaft Slesvigia-Niedersachsen in der Johnsallee. Eine 1978 erworbene denkmalgeschützte Patriziervilla in Uni-Nähe. Auch hier: Lüster, Parkett, Stuck, Ledersessel, Bibliothek, Salon, Kneipe. Die Zimmer-Miete liegt bei 200 Euro im Monat. Sven, 41, Anzug, kurzes Haar, sonore Stimme, war vor einigen Jahren Sprecher der Hamburger Innenbehörde und ist heute stellvertretender Geschäftsführer und Sprecher eines Wirtschaftsverbandes. Er managt die Verbindung, in der 95 Alte Herren und 15 Studenten organisiert sind.

Sven isst eine Spezial-Currywurst und trinkt dazu ein großes Gezapftes. "Es geht uns um Werte, Pflichtbewusstsein und Freundschaft. Um das Wissen, es sind Menschen um mich herum, die mir helfen, wenn mal Not ist oder ich etwas erreichen möchte."

Es sind noch Zimmer frei. Wer in die feudale Verbindungsvilla einziehen will, müsse studieren, drei Pflichtpartien fechten, zur Gruppe passen und Deutsch sprechen, erklärt Sven: "Ich sag es mal ohne Umschweife: Wir haben den Anspruch, dass unsere jungen Männer mal Alphatiere werden, ihr Studium bis zum Examen stramm durchziehen und sich für Deutschlands Leistungselite qualifizieren."

* Alle Namen geändert