Eine neue Generation von Protestgruppen will wichtige Entscheidungen nicht der Politik überlassen. Ihr Verbündeter: das Internet.

Hamburg. Eine Handkamera, ein gesponsertes Studio und 30 Euro Budget: Mehr braucht 350.org nicht für einen Videospot zum Klimaschutz. Europa-Koordinatorin Diana Vogtel hat die Idee: Fünf junge Mitglieder pellen sich vor der Kamera aus ihren Klamotten. Das Video "Strippen gegen das Ozonloch" läuft im Internet - ein witziger Aufruf zum Klima-Aktionstag im Oktober.

In Berlin-Kreuzberg ertrotzt sich die Gruppe Nomadisch Grün ein Stück Stadt: Aus 6000 Quadratmetern vermüllter Brache hat sie mit Anwohnern und Freunden den "Prinzessinnengarten" angelegt. In ausrangierten Industriekörben gedeihen Paprika, Kürbisse, Zucchini, Kräuter und Salate, sogar in Bioqualität. Vorbild des Gemeinschaftsprojekts sind "community gardens", wie es sie in New York gibt.

In Hamburg helfen junge Aktivisten dem Einzelhandel mit Carrotmobs auf die Sprünge. Sie mobilisieren Freunde via Facebook und Twitter zu gezielten Kauf-Aktionen mit dem Ziel, das die ausgewählten Geschäfte ihre Zusatzgewinne in Energiesparmaßnahmen investieren. Der Carrotmob in einem Eimsbütteler Edekamarkt im Oktober war mit 7050 Euro Erlös der bisher erfolgreichste in Deutschland.

Alle reden über neue Protestformen - viele junge Leute proben sie längst . Sie starten Luftballons über Genmais-Feldern, verabreden über Facebook Kleidersammlungen für Obdachlose, gründen Internetplattformen für mehr Nachhaltigkeit oder vernetzen sich mit Klimaschutzaktionen in Indonesien. Die Graswurzelrevolution ist online gegangen. Sie nutzt die Möglichkeiten des Web 2.0 und liefert mit "Tool-Bars" gleich die Organisationstipps für immer neue Nachahmer.

Den Hamburger Carrotmob haben Jörn Hendrik Ast und Anne Mordhorst "in vier Wochen harter Arbeit" vorbereitet. Von 8 Uhr morgens an wurden in dem ausgeguckten Edekamarkt am Heußweg vor allem die Bioprodukte mit Karotten gekennzeichnet, für Musik von einer Band war auch gesorgt. Edeka-Filialleiter Volker Wiem stockte die Zusatzeinnahmen um 450 Euro auf 7500 auf. Jetzt erarbeitet ein Energieberater für das Geschäft ein Konzept für CO2-Einsparungen. Auf Facebook ( hamburg.carrotmob.org) ist die Aktion im Film zu bewundern.

Carrotmobs für den Klimaschutz überfallen inzwischen Reformhäuser, Eisdielen und Supermärkte in vielen Städten. "Wir wollten keine Latsch-dagegen-Demo machen oder nur diskutieren, sondern was bewegen. Ein Boykott ist schwer umzusetzen, bei einem 'Buy-kott' dagegen wird der Ladeninhaber einbezogen und hat auch etwas davon", sagt Personalmarketingberater Ast, 30. Mitstreiterin Anne Mordhorst, 28, engagiert sich in der Studentengruppe sneep für Ethik und Nachhaltigkeit in der Wirtschaft.

Den Satz "Wir wollten selber etwas bewegen" unterschreiben viele neue Initiativen. Paula Hildebrandt, 34, gehört zu der bunt gemischten Gruppe repairberlin, für die die Stadt eine "perfekte Spielwiese für Experimente" ist, schreiben sie auf ihrer Homepage repairberlin.jimdo.com. "Wir ermuntern dazu, unseren Lebensraum selbst zu gestalten. Wir schnappen uns öffentliche Orte und machen sie wohnlich, bunt und anders." Beim "Parking Day" zum Beispiel verwandelten sie sechs Parkplätze an der Friedrichstraße in grüne Inseln: Auf echtem Rollrasen boten Mitmacher Tanzkurse, Cocktails und Ratespiele an. Passanten konnten auf Fragebögen eigene Vorschläge für ein schöneres Berlin machen, die Ergebnisse liefen im Fahrgastfernsehen der Berliner U-Bahn. Zur Überraschung der Politologin und Stadtforscherin Hildebrandt findet repairberlin so große Aufmerksamkeit, "dass wir schon aufpassen müssen, nicht für das Stadtmarketing vereinnahmt zu werden".

Stadtverschönerungsaktionen - von temporären Fußballplätzen über "Urban cooking" (Volksküchen) bis zum Guerilla-Gardening - gibt es mittlerweile von Buenos Aires bis Hamburg. Auf St. Pauli bepflanzten eine junge Lehrerin und ein Mithelfer nachts einen Parkplatz mit Farn und Himbeersträuchern und nannten ihn "Kurpark St. Pauli"; gefunden haben sie sich auf guerillagardening.org , wo sich Interessierte spontan verabreden.

Vor 30 Jahren sahen die Organisationsstrukturen der Gegenöffentlichkeit noch anders aus. Besorgte Bürger verteilten Unterschriftenlisten, hörten Podiumsdiskussionen im Gemeindehaus, traten vielleicht einer Bürgerinitiative bei. Meist wurden Aktionen streng ideologisch abgegrenzt und nach dem alten Kaderprinzip organisiert: Der Vorstand beschloss, das einfache Mitglied verteilte die Flugblätter am Infotisch. Heute ist das Bild wesentlich bunter und internationaler.

Auf der Internetplattform "If We Ran The World" kann sich jeder Ideen für eine eigene Aktion am Wohnort suchen - zum Beispiel eine Tombola zugunsten Obdachloser - oder schon bestehende Initiativen zum Mitmachen finden. Gründerin ist die Britin Cindy Gallop, 50, die 25 Jahre lang für große Werbeagenturen arbeitete. Von langweiligen Wohlfahrtsaktionen hatte sie genug: "Ich wollte ein Projekt, das sexy ist und Spaß macht."

Ihre Plattform, die jetzt auch in Deutschland startet, vermittelt Kontakte und will vor allem Unternehmen anstoßen. "Viele Leute glauben, 'Business is bad', man könnte Firmen nur mit Drohen, Beschämen, Boykott oder Zwang zur ökologischen Produktion bewegen. Viele Firmen wollen aber etwas tun, nur fehlte ihnen bisher eine Anregung, mit der sie sofort anfangen können. Das wollen wir anbieten."

Dabei geht es nicht darum, Unternehmen beim "greenwashing" zu helfen, ihnen ein Pseudo-Umweltprädikat zu verschaffen. Ein großer Teil der jungen Protestler-Generation hat verstanden, dass Einzelaktionen allzu leicht "One-Hit-Wonder" bleiben. Große CO2-Einsparungen und Konsumveränderungen können heute in Massengesellschaften aber nur systemisch erreicht werden. Systemisch heißt: Verbraucher ändern ihre Gewohnheiten; Unternehmen gestalten ihren gesamten Produktionskreislauf nachhaltig um und verpflichten auch ihre Zulieferer auf ökologische und sozialverträgliche Standards.

Nachhaltigkeit, das Schlüsselwort der modernen Protestbewegung, erfordert ein gewaltiges Umdenken. Die Generation der heute 20- bis 40-Jährigen ist mit vielen Freiheiten aufgewachsen - aber auch mit explodierendem Konsum, mit der Wegwerf-Gesellschaft, mit Großprojekten und Billigfliegern. Mit einer verheerenden Umweltbilanz, einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich; mit EU-Verordnungen, die regionale Besonderheiten planieren. "Wenn du einen Tag lang durch die Stadt gehst, begegnen dir 450 Werbesprüche, die dich zum Konsum auffordern, und im Schnitt nur drei, die deine Verantwortung als Bürger ansprechen", sagt Andrew Hobsbawm, Internetpionier und Mitbegründer der Umwelt-Community Green Thing.

Dieses Missverhältnis zu ändern und einen ökologisch und sozial verantwortlichen Umbau der Gesellschaft anzupacken geht vielen Aktiven nicht schnell genug. Sie wollen diese Aufgabe nicht den Politikern überlassen. Viele sind enttäuscht vom Ausgang des Klimagipfels 2009 in Kopenhagen, von den Unsummen, die zur Rettung von Banken ausgegeben wurden und den Kommunen jetzt bei sozialen Aufgaben und beim Klimaschutz fehlen.

Kirsten Brodde, 46, hat zehn Jahre lang für Greenpeace gearbeitet. 2010 machte sie unter anderem mit Aktionen in der HSH Nordbank von sich reden, die von der Stadt mit Milliarden gerettet wurde, während Bankchef Nonnenmacher einen Bonus von 2,9 Millionen Euro kassierte. "Es gibt im Moment offensichtlich ein rebellisches Grundrauschen im Land", sagt Brodde. "Sehr viele wollen sich über den eigenen Nutzen hinaus für die Gesellschaft engagieren. Die Leute haben die Nase voll von Gier und Egoismus."

In ihrem neuen Buch "Protest!" stellt Kirsten Brodde etliche junge Initiativen von Menschen jedes Alters vor, von der "Tafel" bis zum Fußball-Fanprojekt. "Viele Leute sind partei-, aber nicht politikverdrossen. Sie wollen in ihrem direkten Umfeld aktiv werden. Da geht es um Grünflächen, Kindergärten, die Mieten im Stadtteil. Dieses lokale Engagement sollte niemand kleinreden. Man muss nicht gleich nach Gorleben oder nach Kopenhagen."

Das Internet hat die politisierte Öffentlichkeit verändert und verbreitert. Großen Anteil daran hat Campact, eine digitale Plattform für Kampagnen rund um Demokratie-, Sozial- und Umweltthemen. "Wir haben 2004 mit nichts angefangen, heute haben wir 20 Mitarbeiter", sagt Mitbegründer Felix Kolb, 37. Jede Kampagne beginnt mit einer Onlineaktion. 2009 zum Beispiel war es ein Kurzfilm, mit dem Campact und die Anti-Atom-Initiative ".ausgestrahlt" zu einer Menschenkette zwischen Krümmel und Brunsbüttel aufriefen. Der Film wurde im Internet über die 300 000 angemeldeten Campact-Unterstützer verbreitet.

Dass die 120-Kilometer-Kette mit 100 000 bis 120 000 Menschen dann tatsächlich zustande kam, hat auch den "ausgestrahlt"-Sprecher Jochen Stay überrascht. Mit 25-jähriger Erfahrung ist er schon ein Urgestein der Anti-AKW-Bewegung. "Heute gehen weniger Menschen in eine Bürgerinitiative", sagt er. "Viele wollen aber trotzdem, dass ihr Protest sichtbar wird." Das Internet holt Menschen zusammen, es sei aber "nur ein Werkzeug", betont Felix Kolb von Campact. Es ersetzt nicht, dass jemand ganz real zum Beispiel an einer Sitzblockade teilnimmt.

Die Mobilisierung via Facebook und Twitter hat zwei Gesichter, meint Pedram Shahyar, 37, der sich bei Attac engagiert. "Einerseits können mehr Leute ganz schnell mitmachen. Andererseits entsteht dabei auch leicht eine gewisse Konsumenten-Mentalität: Sie erwarten einen Protestdienstleister, der ihnen fertige Aktionen anbietet."

Auch Attac spüre, dass sich "viele Leute heute nicht mehr langfristig binden wollen. Wir haben darauf reagiert, indem wir projektbezogene Angebote machen, die etwa zwei Jahre dauern. Aber eine große Fluktuation bringt einer Bewegung auch Nachteile: Wichtige Erfahrungen können verloren gehen."

In Deutschland gebe es eine "latente Gegenöffentlichkeit", deren unberechenbares und forderndes Wesen vom normalen Politikbetrieb überhaupt noch nicht verstanden werde, sagte der Sozialpsychologe Prof. Harald Welzer kürzlich auf der Jahreskonferenz von Utopia, Deutschlands größter Internetplattform für nachhaltigen Konsum. Die heutigen Protestgemeinden gelten in der Politik als störende Laien.

Dagegen setzen diese Laien das Credo: Jeder kann etwas tun, selbst gestalten macht mehr Spaß, die Videos davon kann man nachher Freunden mailen. Und aus vielen Initiativen erwächst so etwas wie Schwarmintelligenz.