Als Fußball-Profi träumte Kevin Hansen von einer großen Karriere. Jetzt ist er Angeklagter im Hamburger Kokain-Prozess und lebt von Hartz IV.

Kevin Hansen und seine Verlobte liegen noch im Bett, als am 12. April dieses Jahres frühmorgens zehn maskierte, schwer bewaffnete MEK-Beamte die Wohnung am Billstedter Rückersweg stürmen. Der 31-Jährige ist total perplex. Was ist los, was suchen die hier? "Sie wissen schon, warum wir hier sind", bellen die Beamten zurück.

Tags darauf verkündet Thomas Menzel, Chef der Abteilung Organisierte Kriminalität der Hamburger Polizei, vor der Presse den größten Kokain-Fund der deutschen Kriminalgeschichte: Auf einem Frachter aus Paraguay hätten die Fahnder 1,33 Tonnen unverschnittenen Stoff sichergestellt. Verkaufswert: 40 Millionen Euro. Und Kevin Hansen ist einer von sechs Männern, die den Schmuggel organisiert haben sollen.

Hansen ist nicht irgendwer. Als Profifußballer hat er fünf Jahre für Hansa Rostock in der Ersten und Zweiten Bundesliga gespielt, wurde als Talent mit großer Zukunft gefeiert, bis ihn das Glück verließ. Seit Mitte Oktober muss sich Hansen mit seinen fünf mutmaßlichen Komplizen im spektakulärsten Kokain-Prozess aller Zeiten wegen Beihilfe vor dem Hamburger Landgericht verantworten. Er sei, so wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, der "Geldverwalter des Drogenkartells" gewesen. Fünf Millionen Euro aus Rauschgiftgeschäften soll er für die Bande in seiner Wohnung gehortet haben.

Weil er sich rasch bereit erklärte, auszupacken, wurde Hansen Mitte Juni aus der Untersuchungshaft entlassen und ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Kaum jemand zweifelt daran, dass die Angeklagten in dem Millionengeschäft nur "kleine Fische" waren und die Hintermänner südamerikanische Drogenbosse sind, die viel dafür tun würden, dass ihre Namen nicht vor einem Gericht fallen. Der Fußballer lebt seither wie unter einer Tarnkappe, die ihm das Landeskriminalamt verpasst hat. Hansen darf nicht mehr Hansen sein. Er hat seine Wohnung am Rückersweg gegen eine anonyme Zeugenwohnung getauscht, ein Leben in Freiheit gegen eines unter Beobachtung.

Sein erstes Tor als Profi schießt er gegen Bayern-Keeper Oliver Kahn

Wie ein Unsichtbarer geistert der 31-Jährige irgendwo durch die Stadt, er vertreibt sich die Langeweile mit Fitness, jeden Tag drei Stunden. Alle sechs Wochen darf er seine Eltern sehen und nach vorheriger Absprache mit den Beamten seine Verlobte, die in einer anderen Stadt studiert. Weihnachten, das weiß er schon jetzt, wird er nicht bei seiner Familie verbringen dürfen, er lebe isoliert und aktuell von Hartz IV, erklärt er vor Gericht. "Den Rest des Tages hänge ich zu Hause herum."

Uli Schulz ist einer von denen, die Kevin Hansen am besten kennen. Er trainiert Hamm United FC, und Kevin Hansen war sein bester Spieler. "Wir befinden uns noch immer im Schockzustand", sagt Schulz.

Unter Schulz hatte Hansen in den 90er-Jahren schon beim Billstedter Amateurklub "Vorwärts Wacker 04" gespielt. Der Junge galt in der Hamburger Jugend als Riesentalent. "Passpiel und Freistöße, das beherrschte er perfekt", sagt Schulz. Einer wie Hansen konnte den Ball aus den unmöglichsten Winkeln ins Tor spitzeln.

Das sprach sich herum. 1999 verpflichtet ihn der Bundesligist Hansa Rostock, zunächst tritt Hansen, damals 19, bei den Amateuren an, zwei Jahre später holt ihn Armin Veh, heute HSV-Trainer, in den Profikader. Gleich in seinem ersten Profi-Spiel gegen Bayern München erzielt er den Anschlusstreffer. Der Frischling im Elfmeterduell gegen Oliver Kahn, den sie damals noch Titan nennen. Hansen jagt den Ball in die Maschen. Anschließend soll er zu Kahn gesagt haben: "So, Olli, jetzt kannst du nach Japan zur WM." Vielleicht hat Hansen schon damals verkannt, wo Selbstbewusstsein endet und Hybris beginnt.

Im Jahr darauf verlässt ihn jäh das Karriereglück. Hansen knickt um, das Syndemoseband ist gerissen, der linke Knöchel gebrochen. Er leidet unter wahnsinnigen Schmerzen, dann entzündet sich auch noch eine OP-Wunde, er geht von einem Arzt zum nächsten. Akupunktur, Lasertherapie - nichts schlägt an. "Ich bin kurz vorm Durchdrehen", verrät er in einem Interview. 2005 will ihn Erzgebirge Aue verpflichten, er verletzt sich aber in einem Testspiel erneut. Nach der neunten Operation schmeißt er hin: Seine Profi-Karriere ist beendet, Hansen ist jetzt Sport-Invalide. Die Berufsgenossenschaft zahlt ihm monatlich rund 3000 Euro.

2008 kehrt er nach Hamburg zurück, zieht nach Billstedt, wo er aufgewachsen ist, und heuert gleich bei Hamm United an. Fünf Spieler kennt er noch aus der A-Jugend. Für den damaligen Bezirksligisten ist Hansen, der auch als Invalide ein Spiel dominieren kann, wie ein Sechser im Lotto. Präsident Jörn Heinemann verfolgt ehrgeizige Ziele, will mit dem Klub, der seit seiner Gründung 2005 jedes Jahr aufgestiegen ist, ganz schnell nach ganz oben. Kevin Hansen avanciert zum Dreh- und Angelpunkt des kleinen Teams. "Ein exzellenter Spieler, ein super Passgeber, ein Goldstück", schwärmt Klubpräsident Jörn Heinemann. Auch bei seinen Mitspielern ist Hansen beliebt, weil er keine Allüren hat. Erstmals seit Langem fühlt er sich wieder zu Hause, befreit vom Druck zu hoher Erwartungen.

Während die Bande den Drogendeal plant, hat die Kripo sie längst im Visier

Doch dann tritt Constantin F., genannt Costa, in sein neues Leben. Hansen hat ihn noch zu Profi-Zeiten bei Hansa Rostock kennengelernt. In Hamburg taucht der 27-jährige Deutsch-Grieche, der mal für den SV Lurup gekickt hat, während des Trainings gelegentlich am Spielfeldrand auf, die beiden werden Freunde. Von November 2009 an wohnt er bei ihm zur Untermiete, irgendwann geht auch Costas Freund Ibrahim K., genannt Ibo, bei ihm ein und aus. Beide waren 2006 wegen schwerer räuberischer Erpressung angeklagt, wurden aber freigesprochen.

Immer wieder, sagt Hansen jetzt vor Gericht, habe Costa Geld in seiner Wohnung deponiert. Mal in einer Sporttasche, mal lag es bündelweise auf dem Tisch. Einmal habe dort auch eine Geldzählmaschine gestanden. Als er stutzig geworden sei, habe Costa entgegnet: "Mach dir keinen Kopf."

Am 4. Dezember 2009 laden Costa F. und Ibrahim K. Hansen zu einem Urlaub in Miami ein. Anfangs sei ihm das wie eine "Belohnung" vorgekommen, sagt er jetzt. In den USA weihen sie ihn in ihre Pläne ein: Im Frühjahr werde ein südamerikanisches Schiff mit Kokain Kurs auf Hamburg nehmen, der Stoff soll in Holzbriketts versteckt werden. Hansen ist nun Mitwisser.

Zu diesem Zeitpunkt stehen er und seine Kumpane längst im Fadenkreuz der Drogenfahnder. Denn diese waren einen Monat zuvor bei der Festnahme zweier Kleindealer auf Spuren gestoßen, die zu einer weit verzweigten Gruppe von Hamburgern führten. Zu Costa F. und Ibrahim K., zu Pedro E., Celal E., Haci C. - und zu ihm, Kevin Hansen. Intern taufen die Beamten die Bande "Los Paraguayos". Kein Treffen entgeht ihnen, kein Telefongespräch. Kevin Hansen ist jetzt eine Zielperson.

Ist der 31-Jährige in Miami unter Druck gesetzt worden? "Ich glaube, dass er massiv eingeschüchtert wurde", sagt Detlef Meyer, Vizepräsident von Hamm United. Nach seiner Rückkehr am 13. Dezember sei Kevin auffällig empfindlich gewesen, schnell an die Decke gegangen. Ganz untypisch für ihn.

Während Anfang 2010 die Vorbereitungen für den Drogendeal auf Hochtouren laufen, führt Hansen sein Leben normal weiter. Er denkt über einen Trainerschein und die Gründung einer Jugendgruppe bei Hamm United nach. Im Februar beginnt er eine Ausbildung als Steuerfachangestellter in der Kanzlei von Klubpräsident Heinemann. Doch mit dem Bürojob wird er nicht warm. Für Hansen war die Wahrheit immer auf dem Platz.

Im Hafen hat die Bande eine Lagerhalle angemietet. Die Fahnder sind in Alarmbereitschaft, seit November hat die Bande sechs "Tarnlieferungen", Frachtcontainer gefüllt mit 20 Tonnen unverdächtigen Holzbriketts, nach Hamburg verschifft. Jeden einzelnen Container aus Asunción röntgen die Ermittler - ohne dass die Bande etwas davon mitbekommt. Die siebte Lieferung am 12. April ist ein Volltreffer. Vermutlich in Paraguay haben Drogenhändler das Kokain in die Briketts gepackt, dann mit einem Heißkleber verschlossen und auf große Fahrt geschickt. Bei 19 zeitgleichen Razzien in und um Hamburg geht der Polizei die gesamte sechsköpfige Bande ins Netz.

Bei Hamm United sind sie überzeugt, dass ihr Kevin bald wieder spielt

Als Kevins Fußball-Kameraden bei einem Pokalspiel in Harburg davon erfahren, glauben sie zunächst an einen verspäteten Aprilscherz, geben dann aber tapfer eine Pressemeldung heraus. Tenor: Unser Kevin ist kein Krimineller. Sein guter Name sei "von interessierter Seite dazu benutzt worden, kriminellen Aktivitäten nachzugehen".

Sein Trikot mit der Nummer 14 hängt noch bei Hamm United. Es signalisiert: Der Kevin ist mal eben weg, der kommt gleich wieder. So sehen es die Verantwortlichen tatsächlich. Vereins-Vize Meyer sagt: "Im Januar spielt der Kevin wieder bei uns, dann kriegt er auch sein Trikot zurück." Obgleich das Zeugenschutzprogramm nicht automatisch endet, wenn das Gericht voraussichtlich am 16. Dezember das Urteil verkündet.

Florian Simon, Innenverteidiger der Mannschaft, spricht immerhin von Fakten, an die man sich halten müsse, und gerade die Fakten sprechen gegen seinen Freund Kevin. "Er war vielleicht ein wenig naiv", sagt Simon und ergänzt: "Wenn ich von der Sache Wind bekommen hätte, hätte ich ihm die Löffel lang gezogen."

Auch andere im Verein halten Hansen für "zu gutgläubig" und sind überzeugt, dass Kevin irgendwie in die Geschichte "reingerutscht" und an die "falschen Leute" geraten ist. Und warum sollte einer, der im Drogengeschäft das große Rad drehen will, noch einen Trainerschein machen?

Doch die Wahrheit ist derzeit eben nicht auf dem Platz, sondern im Gerichtssaal. Am Mittwoch dieser Woche sitzt ein bleicher Mann mit Kurzhaarfrisur und ernster Miene in der letzten Reihe im Hochsicherheitssaal des Landgerichts. Hinter dem Panzerglas wirkt Kevin Hansen neben seiner Verteidigerin Annette Voges etwas verloren. Zwei zu seiner Sicherheit abgestellte LKA-Beamte in Zivil haben hinter ihm Platz genommen. Mit leicht nuscheliger Stimme lässt sich Hansen "zur Sache" ein, spricht über Costa, über Ibo, die Miami-Reise, das Geld in seiner Wohnung und die gemietete Lagerhalle am Hafen. Die entscheidende Frage: War Kevin wirklich so naiv, wie er das Gericht glauben machen will? Wusste er wenig bis gar nichts? Oder hatte der Profi-Fußballer einen deutlich aktiveren Part, zumal Costa F. bereits ausgesagt hat, dass Hansen ihm beim Zählen des Drogengeldes geholfen habe? Dies bestreitet der 31-jährige Ex-Profikicker.

Nach der Verhandlung verlässt er mit seinen Beschützern den Saal, kehrt zurück in die Welt, in der Hansen nicht Hansen sein darf. Eine Welt, die seine Verteidigerin ein "Freiluftgefängnis" nennt.