Er bewahrte schon die Sprache der alten Kiezbewohner vor dem Vergessen. Jetzt hat Klaus Siewert die Straßenkunst des Stadtteils verewigt.

St. Pauli. Seine Motive offenbaren ihre Schönheit oft erst auf den zweiten Blick. Außerdem sind sie vergänglich. Graffitis voller Dynamik, verwitterte Wandmalereien und Plakate, die - überklebt und zerrissen - einen speziellen Charme entwickelt haben. Aufgespürt hat Klaus Siewert , 56, sie auf seinen Streifzügen durch St. Pauli, abseits der "Meile" in Hofeinfahrten, an Hauseingängen, Laternenpfählen und den Wänden von Eckkneipen.

Nachdem der Sprachwissenschaftler mit den Büchern "Die Kedelkloppersprook" und "Hamburgs Nachtjargon" bereits die Sprache der Kesselklopfer und die der alten Kiezbewohner vor dem Vergessen bewahrt hat, setzt er in seinem neuen Buch der anonymen Street-Art von St. Pauli ein Denkmal. "Auf St. Pauli. Fotografische Einsichten in den Mikrokosmos eines Mythos" heißt der Bildband im Großformat, der unmittelbar nach seinem Erscheinen auf der Frankfurter Buchmesse bereits im Rennen um den Titel "Schönstes Buch Deutschlands" ist. Die Fotos wurden nicht auf das übliche Hochglanz-Papier gedruckt, sondern auf cremefarbene Seiten, die leicht angeraut sind. "Dadurch", sagt Siewert, "wirken die Bilder wie Gemälde und bekommen eine gewisse Wertigkeit." Die Suche nach den eindruckvollsten Kunstwerken führte ihn auch in die Herbertstraße - wo eigentlich absolutes Kamera-Verbot herrscht. "Normalerweise werden Fotografen dort mit Eiern beworfen", sagt Klaus Siewert. Um sich mit seiner Kamera auf dem heißen Pflaster ungestört bewegen zu können, wählte er einen perfekten Zeitpunkt aus. "Als Deutschland während der Weltmeisterschaft 4:0 gegen Argentinien gewonnen hat, wurde auf St. Pauli die ganze Nacht gefeiert", erinnert sich Siewert. "Am Morgen danach, so gegen acht Uhr, war kein Mensch in der Herbertstraße zu sehen - und ich hatte genügend Zeit, die wunderschönen Gemälde dort abzulichten."

In einem engen Durchgang der Bordellstraße entdeckte er zwei kleine, im Jugendstil gemalte Frauenbilder. "Amazonen" hat er sie in seinem Buch genannt, denn bei ihm bekommt jedes der eigentlich anonymen Street-Art-Werke einen Titel, der mal lyrisch, mal politisch sein kann. "Golf von Mexiko" etwa heißen Fischbilder aus der St.-Pauli-Hafenstraße, über die dunkle Farbe rinnt.

"Jammerschade" findet Siewert es, dass Graffiti und Wandbilder gemeinhin als "Verunstaltung braver, deutscher Hausfassaden", gelten. "Man kann in Straßenmalerei auch etwas ganz Besonderes sehen", sagt er, "nämlich anonyme brillante Kunstwerke, die zur politischen Kultur beitragen und es verdienen, dokumentiert zu werden." Siewert ist froh, dass er sie mit dieser Fotodokumentation gleichzeitig vor der Vergänglichkeit retten kann.

Als er bei einem Gang durch die Friedrichstraße bemerkt, dass ein von ihm fotografiertes Frauengemälde übermalt worden ist, sagt er erleichtert. "Wie gut, dass ich diese wunderschöne Dame als ,Terralotta' in meinem Buch verewigt habe." St. Pauli sei einer der interessantesten Stadtteile der Welt, schwärmt Klaus Siewert. Die Affinität zu St. Pauli begleitet den gebürtigen Westfalen schon fast sein Leben lang. Als Zwölfjähriger war er mit seinem Vater das erste Mal auf dem Fischmarkt, als Student verdiente er sich ein Zubrot mit dem Singen von maritimen Liedern, natürlich auch denen von Hans Albers. Sein zweiter Wohnsitz ist ein Fachwerkhaus hinter dem Nordseedeich. Dort ist er immer, wenn er nicht an der Uni in Minden Sprachwissenschaften lehrt oder für den von ihm gegründeten Geheimsprachenverlag tätig ist. Oder durch Hamburg schlendert - auf der Suche nach Verborgenem und Vergänglichem, das er für die Nachwelt erhalten kann.

Klaus Siewert: "Auf St. Pauli", Geheimsprachenverlag, 252 Seiten, 34 Euro. ISBN 978-3-9813057-7-7