Gorleben 21: Wo bleiben die Proteste der Beschäftigten, die acht Stunden am Tag arbeiten, aber am Monatsende die Familie nicht ernähren können?

Nebbich! Das ist also das Jahr der Politisierung, das Jahr der Demonstrationen, das Jahr des (auch bürgerlichen) Widerstandes gegen die da oben, gegen die Parteien, gegen die Regierung, einfach gegen alles.

Neben Stuttgart 21, wo übrigens nicht mehr demonstriert wird, seit Heiner Geißler schlichtet (Wieso eigentlich nicht mehr? Reicht die Betäubung eines Schlichters, um den Protest einzuschläfern?), nun auch noch Gorleben, wo übrigens seit Jahrzehnten demonstriert wird. Im Westen also nichts Neues, um sich zu stilisieren und hineinzureden, um eine politisch aktive, sich für Politik interessierende, bürgerlich wache Republik zu definieren. Da kann ich nur noch einmal sagen: nebbich!

Schön wäre es ja, unbedingt wünschenswert, dass Politik von unten nach oben gestaltet wird. Schön wäre es ja, auch wünschenswert, dass die politischen Parteien das Gefühl erleben, dass das Volk (viel heterogener noch als die Parteienlandschaft) den Entscheidungsträgern auf die Finger schaut und wenn nötig, ihnen auf die Finger klopft.

Aber wünschenswert heißt nicht, dass es Realität ist. Leider! Denn etwas mehr politisches Alltagsbewusstein und Engagement würden auch die Parteien dazu zwingen, konkreter, argumentativer, rationaler und vernetzter zu argumentieren und den Souverän so ernst zu nehmen, wie er es wirklich verdient.

Der Politik das Leben schwer zu machen, weil der Wähler es sich selbst auch nicht leicht macht, wäre für alle Beteiligten eine befruchtende Realität.

Der größten Protestbewegung allerdings, und auch der am meisten wachsenden, gehören jene an, die sich sogar aus dem Minimalengagement verabschieden und nicht einmal mehr zu den Wahlen gehen. Begründet wird diese Handlungsfaulheit mit dem abgenutzten und nie ernst zu nehmenden Argument: "Die da oben machen eh, was sie wollen, unsere Stimme ist nicht von Gewicht." Da bleiben jedoch diese Worte schnell im Halse stecken. Denn vor nichts haben Politiker mehr Angst als vor der einzelnen Stimme und der nächsten einzelnen Stimme, weil diese und nur diese in einer parlamentarischen Demokratie Machtverhältnisse wirklich verändern.

Und wem die Parteienlandschaft nicht ausreicht, um sich wiederzufinden, der kann das nächste Geschenk der Freiheit auspacken und selbst eine Partei gründen. Keine Chance? Sinnlos? Billige Verdrängungsargumente! Wer die Entwicklung der Grünen, aber auch der Linken beobachtet, sieht doch, dass sich Parteienlandschaften und damit auch die Mehrheits- und Machtarchitektur in Deutschland dramatisch verändert haben. Lassen wir uns also vor allen Dingen nicht von denen täuschen, denen der jetzige Protest parteipolitisch in die Hände spielt. Blasen wir diese hochwillkommenen Demonstrationen nicht zu einem neuen Trend auf. Täten wir das, würden wir unser politisches Aktivistengewissen beruhigen, uns zur Ruhe setzen und sagen: Alles ist gut.

Statt dessen sollten wir diese zarte Pflanze durch eigene Aktivitäten quantitativ und qualitativ ergänzen. Denn eines zeigen die Proteste schon - auch und gerade die Hamburger Situation zur Kenntnis genommen -, sie zwingen die Politiker zu Recht, ihre Entscheidungen zu überdenken.

Erstaunlich ist, dass bei der wichtigsten Frage der Republik, nämlich die nach der richtigen Geschwindigkeit der sozialen Gerechtigkeit, anders als in Frankreich, wo über 1,5 Millionen Menschen demonstriert haben (ich spreche von friedlichen Demonstranten), sich bei uns, unabhängig vom Standpunkt, kaum jemand mobilisieren lässt. Erstaunlich ist, dass in der Bildungspolitik proaktiv, also wenn die Politik nicht am Rad des Bestehenden dreht, kaum Massendemonstrationen stattfinden. Wo sind die jungen Menschen, die aufgrund der schlechten Bildungssituation ihre Zukunft nicht optimieren können und für diese Optimierung diese Gesellschaft aufrütteln nach dem Motto: "Wir wollen lernen, wir wollen uns ausbilden, gebt uns mehr!"

Wo sind die Arbeitnehmer, die acht Stunden am Tag malochen und am Monatsende ihre Familie nicht ernähren können? Immerhin leben mehr als sieben Millionen in einer solchen Arbeitssituation. Es gibt also viel zu tun, aber viel zu wenig wird getan. Ich würde mir wünschen, dass dieses im Grundgesetz gesicherte Instrument der Meinungsäußerung des Bürgers, nämlich demonstrieren zu können für oder gegen das Bestehende oder das Geplante, mit weit mehr Lust, Leidenschaft und Inhalt gefüllt wird.

Welch ein Geschenk! Welch ein Privileg, in Freiheit angstfrei sich für die eigene Zukunftsgestaltung engagieren zu können! Mehr davon!