Immer mehr Menschen in Deutschland brauchen einen gesetzlichen Betreuer. So wie Chantal. Ihr Leben geriet mit elf Jahren ins Wanken.

Die beiden Frauen lächeln. Sie kennen sich erst seit zwei Jahren. Und wirken doch vertrauter. Chantal, 26, und Iris Peymann, 46 Jahre alt. Die ältere von beiden ist gesetzliche Betreuerin und sagt, dass sie damals, Ende 2008, in den ersten Monaten ihrer neuen Beziehung nur "Krisenintervention" betrieben hat. Seitdem kümmert sie sich um den ganzen Schreibkram mit Arbeitsagentur, Vermietern, Versicherungen oder Telefonanbietern. Damit Chantal "die Kraft hat für den Alltag". Chantal sagt, sie wüsste nicht, wo sie ohne Frau Peymann jetzt stünde. Früher nannte man gesetzliche Betreuung einmal Vormundschaft. Das klang irgendwie nach Bevormundung. Und ein Verdacht, der dabei immer mitschwang, war, dass die staatlichen Betreuer sich das Erbe der alten und oft unter Demenz leidenden Menschen unter den Nagel reißen.

Vor vier Jahren deckte das Abendblatt solch einen Skandal auf. Die Geschichte der "alten Dame" aus Kummerfeld im Kreis Pinneberg sorgte für helle Aufregung und ein ungewöhnlich großes Leserecho. Thea Schädlich berichtete, dass sie ihr Haus von einem auf den anderen Tag nicht mehr betreten durfte. Dass die Gemeinde ihr 7500 Quadratmeter großes Grundstück schon immer haben wollte. Und dass sie es ihr nun weggenommen hätten. Mithilfe von Betreuern, die sie nur wenige Male zu Gesicht bekommen hatte.

Heute haben in Deutschland mehr als 1,2 Millionen Menschen - doppelt so viele wie 1995 - einen Betreuer an ihrer Seite, weil sie selbstständig nicht mehr zurechtkommen. Ihnen stehen rund 11.000 Betreuer zur Verfügung. Der Bedarf steigt. Die Menschen werden älter, Familienstrukturen lösen sich auf, soziale Einrichtungen können aufgrund finanzieller Einschränkungen immer weniger leisten. Und die Zahl junger Menschen mit multifunktionalen Störungen wächst. Man kann auch sagen: Die Gesellschaft schlittert da in ein Problem rein, auf das sie überhaupt nicht vorbereitet ist.

"Die Bedingungen für gesetzliche Betreuer haben sich dramatisch verschlechtert", sagt Klaus Förter-Vondey. "Wir haben zu wenig Zeit und können die notwendige Betreuungsqualität nicht mehr erbringen", sagt der Vorsitzende des Bundesverbandes der Berufsbetreuer (BdB). In Hamburg immerhin stagniert die Zahl mit rund 24.000 Betreuungen seit fünf Jahren.

Chantal kennt sich mit Zahlen aus. Sie muss das, um zu überleben. Sie nimmt täglich Zyprexa, Abilify, Carbamazepin und Zoplicon. Zu genau bestimmten Zeiten und in genau bestimmten Dosen. Die Medikamente helfen bei Depressionen, Unruhe, Angst- und Schlafstörungen. Sie nimmt Medikamente, seit sie 15 Jahre alt ist. Einmal, im Herbst 2008, hat sie die Mittel abgesetzt. Ein Fehler mit schlimmen Folgen. "Da war ich plötzlich total in der Manie drin." Sie verlor ihren Job, ihre Versicherung, ihre Wohnung und hatte plötzlich 6000 Euro Schulden.

Man spricht bei einer manischen Depression auch von einer bipolaren Störung. Dabei wechselt die Stimmung der Betroffenen rasch zwischen Traurigkeit, Reizbarkeit und Euphorie. Die häufigsten Symptome, die mehrere Tage andauern, sind gesteigerte Betriebsamkeit, vermindertes Schlafbedürfnis, übersteigertes Selbstwertgefühl, vermehrte Gesprächigkeit bis hin zu Größenwahn, Halluzinationen oder Suizidgedanken. "Man ist total überdreht, macht 20 Sachen gleichzeitig, gibt viel Geld aus und lernt viele Leute kennen - auch nicht so positive", sagt Chantal.

Zwillingsstudien haben ergeben, dass 40 Prozent der Zwillinge trotz gleicher Erbanlage gesund oder nicht bipolar waren. Es spielen also offenbar noch weitere Faktoren eine Rolle. Anders: Gene können auch durch Belastungsfaktoren "geweckt" werden. Das können Erziehungsstile oder traumatische Lebensereignisse sein. Ein erhöhtes Risiko für bipolare Erkrankungen konnte auch in Adoptionsstudien nachgewiesen werden. Experten sprechen von "biologischen Narben", hervorgerufen durch emotionale Belastungen und frühe Stresserfahrungen.

Als Chantal elf Jahre alt war, fand sie ihre Oma tot in der Wohnung liegend. Wenig später entdeckte sie beim Stöbern im Schrank ihre Adoptionsunterlagen. Sie hat von da an mit ihren Eltern im Grunde nicht mehr gesprochen. "Ich habe ein halbes Jahr lang auf jede ihrer Fragen nur mit Ja oder Nein geantwortet." Warum sollte sie auch mit den beiden Menschen sprechen? Das waren ja gar nicht ihre richtigen Eltern.

Abends ist Chantal immer öfter einfach weggelaufen. In den Wald, wo sie sich versteckt hat. Angst in der Dunkelheit hatte die Elfjährige nicht. "Da konnte mich ja niemand finden. Selbst der beste Spürhund nicht." Insgesamt achtmal kam sie in die Aufnahme des Kinder- und Jugendnotdienstes. Mit 14 Jahren folgte der erste stationäre Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie. Chantal heißt jetzt anders, aber diesen Namen hat ihr ihre leibliche Mutter gegeben.

Wenn es zu schwer ist zu begreifen, dass einen die Mutter gleich nach der Entbindung zur Adoption freigegeben hat, wird aus dieser fundamentalen Verletzung der Seele vielleicht solch ein Leben. Ein zerrissenes Dasein im Dazwischen. Zwischen dem dunklen Wald und den warmen vier Wänden, zwischen Auffallen und Abtauchen, zwischen der Suche nach der leiblichen Mutter und dem Abfinden damit, dass dieser Wunsch ergebnislos bleibt. Weil es 1984 mit der sogenannten geschlossenen Adoption noch die Möglichkeit gab, sein Kind wegzugeben, ohne Spuren zu hinterlassen.

Ein Leben, das sich auch mit Gedichten über Wasser hält. Chantal schreibt die Dinge auf, weil sie dann auf dem Papier stehen "und nicht mehr in meinem Kopf sind". Gedichte über Tränen und Hass, Ängste und Liebe, über Gegenwart und Vergangenheit. In einem Gedicht heißt es: "Manchmal denke ich zurück an die Vergangenheit und frage mich, wie dies alles passieren konnte. Doch passiert ist passiert, vergangen ist vergangen, daran kann man nichts mehr ändern. Doch es tut weh zu wissen, krank zu sein. Es schmerzt, dass man geschlagen wurde. Eingesperrt von seinen eigenen Angehörigen. Doch passiert ist passiert, vergangen ist vergangen, daran kann man nichts mehr ändern."

Iris Peymann sagt, dass sich viel geändert hat. Das Betreuungsrecht ist in der Tat ein echter Fortschritt zum alten Vormundschaftsrecht. Die Entmündigung als einzige Lösung für den Umgang mit alten, kranken oder behinderten Menschen hatte mit der alten Rechtsform ausgedient. Jetzt stehe "der Wunsch und das Wohl der Betroffenen" im Vordergrund. Was für die Betreuer, die sich um die Aufgabenfelder Gesundheit, Vermögen und Aufenthaltsbestimmung kümmern, nicht immer ganz einfach ist. "Ich darf bei der Betreuung auch nicht meine Maßstäbe anlegen", sagt sie. Selbst wenn es "Lebensentwürfe gibt, die nicht meinen entsprechen".

Und auch im Leben von Chantal hat sich durch Iris Peymann einiges geändert. Die beiden haben sich quasi am Krankenbett kennengelernt, als Chantal im November 2008 insgesamt 19 Tage in der Psychiatrie der Uniklinik Eppendorf stationär behandelt wurde. Als sie keine Wohnung mehr hatte, keine Krankenkasse, keinen Job. Als sie wusste, dass sie Schulden hat, aber nicht, in welcher Höhe.

Wie war das, als sie sich das erste Mal gegenüberstanden? "Mir blieb ja nichts anderes übrig, und ich war froh über jede Unterstützung", sagt Chantal. Iris Peymann ermittelte die Höhe der Schulden, leitete ein Insolvenzverfahren ein, sorgte für Hartz-IV-Unterstützung und besorgte einen Platz in einer Einrichtung für betreutes Wohnen. Sie sagt, dass es manchmal "schon komisch ist, in den Unterlagen von Fremden zu wühlen". "Sie sind mir nicht fremd", sagt Chantal. "Das ist schön", sagt Iris Peymann.

Sie hat mit der Saga gerungen, als Chantal ihre eigene Wohnung beziehen sollte und diese noch gar nicht bezugsfertig war. "Da kann man doch eine Matratze reinlegen", meinte der städtische Vermieter, der erst nach langem Hin und Her bereit war, für die Übergangszeit die Hotelkosten zu übernehmen.

In der 28 Quadratmeter kleinen Wohnung von Chantal hängen überall Gedichte und Sprüche. Von Schiller und Sokrates, Dürrenmatt und Goethe, Erich Fried und Johann Nepomuk Nestroy, dem österreichischen Shakespeare. Ihr Lieblingszitat ist von Mark Twain: "Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden." Sie hat Tee gekocht und fragt, ob das okay sei. Für Kaffee reicht momentan das Geld nicht. Manchmal kommt sie mit 20 Euro im Monat für Essen aus, sagt sie, das sei überhaupt kein Problem.

Zusammen mit Iris Peymann haben sie Ratenzahlungen mit der Justizkasse vereinbart. Sie erörtern gemeinsam das Tempo von Chantals Rückkehr in die Selbstständigkeit. Noch gehen alle Behördenschreiben an beide. "Die Geschwindigkeit geben Sie vor", sagt Iris Peymann. Sie sagt aber auch, "dass das keine Dauerbegöschung" ist. "Das will ich auch nicht", sagt Chantal. "In sieben Jahren brauche ich sie bestimmt nicht mehr." Das Gericht setzt individuell Überprüfungszeiträume für die einzelnen Betreuungen fest.

"Ich muss aufpassen, mich nicht wieder unter Druck zu setzen, wo es mir jetzt besser geht", sagt Chantal. Alle zwei Wochen geht sie noch zu einer Selbsthilfegruppe ins UKE.

Iris Peymann kann für die Arbeit mit Chantal dreieinhalb Stunden geltend machen - im Monat. Sie bekommt 38 Euro in der Stunde. Sie sagt, dass sie dafür haftet, wenn sie zum Beispiel vergisst, einen Rentenantrag zu stellen. Und dass ihre Tätigkeit der Allgemeinheit enorme Kosten spart.

Chantal will möglichst bald wieder in ihrem Beruf als medizinische Bademeisterin und Wellness-Masseurin arbeiten. Sie wird weiter Gedichte schreiben und hofft, dass sie vielleicht einen kleinen Verlag findet, der die ganz persönlichen Texte veröffentlicht. Sie kämpft sich mühsam in ihr leises Leben zurück und ist dabei zum Glück nicht allein. "Manchmal fühle ich mich wie ein Delfin, der sich krampfhaft aus einem Fischernetz befreien muss, um zu überleben", schreibt sie in einem Gedicht.