Die Historikerin Dr. Ulrike Jureit, 46, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung.

Hamburger Abendblatt:

1. Wieso mussten sechs Jahrzehnte vergehen, bis die Rolle der braunen Diplomaten unter Hitler erforscht wurde?

Ulrike Jureit:

Es liegen bereits seit vielen Jahren detaillierte Forschungen zur Geschichte des Auswärtigen Amtes während des Nationalsozialismus vor. Wissenschaftlich ist die Mitwirkung von Diplomaten am Holocaust keine Neuentdeckung, aber offenbar wird diese Tatsache in bestimmten politischen Kreisen erst jetzt zur Kenntnis genommen.

2. Ist man ein besonders guter Diplomat, wenn man seine politische Überzeugung der jeweiligen Regierung anpasst?

Jureit:

Die teils aktive, teils passive Beteiligung am Holocaust berührt eine viel tiefere Dimension der Teilhabe, wir reden nicht über irgendein opportunistisches Verhalten, wir reden über systematischen Massenmord.

3. Sehen Sie weitere weiße Flecken in der braunen Vergangenheit öffentlicher Institutionen?

Jureit:

Sicherlich gibt es noch Forschungsfragen, die es zu bearbeiten gilt, allerdings sollten wir uns endlich davon verabschieden, solche Analysen immer als Sensations- und Enthüllungsgeschichten zu präsentieren.

4. Sollte jetzt als nächstes Projekt die Nazi-Verstrickung zum Beispiel von Mitarbeitern des Gesundheits- oder des Wirtschaftsministeriums wissenschaftlich untersucht werden?

Jureit:

Wir verfügen ja bereits über eine ganze Fülle von Studien zu diesen Themen, auch wenn es noch offene Fragen gibt. Aber manchmal scheint doch weniger ein Forschungsdefizit als ein Wahrnehmungsdefizit vorzuliegen.

5. Aus der Opposition kommt der Ruf nach einer Umbenennung des Auswärtigen Amtes. Wäre das historisch sinnvoll?

Jureit:

Ich halte das für keinen sinnvollen Vorschlag. Was soll das bringen? Wenn man sich von der verbrecherischen Vergangenheit des Auswärtigen Amtes überzeugend distanzieren will, dann muss man diese Geschichte aufarbeiten. Zu diesem schmerzhaften Prozess gibt es keine Alternative.