Das Projekt Stuttgart 21 tritt in seine möglicherweise entscheidende Phase - die therapeutische.

Anders als mit psychologischen Rettungsmaßnamen wird die irrationale Situation nicht mehr zu entwirren sein.

Bei einem Teil der Stuttgarter Bevölkerung hat sich eine Sehnsucht nach Revolte und Freiheit aufgestaut. Ein Leben lang diszipliniert und fleißig, eingezwängt zwischen Kehrwoche, pietistischem Arbeitsethos und konservativer Familienstruktur, kann zu neurotischen Verhaltensstrukturen führen. Vor allem wenn sich die scheinbar sichere und fest gefügte Umgebung verändert, kann es zu emotionalen Eruptionen kommen, und bisher friedliche und unauffällige Bürger gerieren sich, als würden ihre Häuser enteignet, die Bausparverträge beschlagnahmt, als ginge es um Krieg oder Frieden oder doch wenigstens um Kernenergie.

Jetzt entlädt sich der Gefühlsstau ausgerechnet an einem Bahnprojekt. Wo doch die Eisenbahn sonst als ökologisch vorbildlich gilt und die Stadt durch das Projekt zudem mehr Raum für Grünflächen und urbane Entwicklung bekommt. Mein Freund, der Baum, und Karl, der Käfer, sind zurück aus den 70ern, und der Grüne Cem Özdemir wittert hinter dem ganzen Vorhaben Geschäftsinteressen - als ob gute Geschäfte in einer Marktwirtschaft etwas Anrüchiges wären.

Und die Regierenden, die so gern vorgeben, ganz nah bei ihren Wählern und deren Sorgen zu sein, haben davon jahrelang nichts bemerkt. Sie berufen sich auf das unzweifelhaft ordnungsgemäße, demokratische und jahrelange Verfahren, das dem Baubeginn vorangegangen ist.

Das gesamte Szenario enthält alle Elemente einer soliden Ehekrise, in der zwar niemand fremdgegangen ist oder gegen einen Ehevertrag verstoßen hat, die Beteiligten sich aber trotzdem über die Jahre irgendwie auseinandergelebt haben. Das Land gehört nun deshalb auf die Couch. Und möglichst schnell auch wieder runter, wenn es seinen Wohlstand, seine Zukunftsfähigkeit und seine gesellschaftliche Stabilität behalten will.

Ein klassischer Fall für einen erfahrenen Paartherapeuten. Heiner Geißler ist so jemand, der sich vom CDU-Generalsekretär und Wadenbeißer Helmut Kohls zum Mitglied von Attac, erfolgreichen Mediator und Guru der Basisdemokratie gewandelt hat. Hat er Erfolg, krönt er sein Lebenswerk, scheitert er, wird ihm das niemand vorwerfen können. So hat die ganze Geschichte wenigstens einen Gewinner.