Sting ist Verführer und Dandy, Peter Gabriel Tröster und Schamane. Beide treten jetzt mit großem Orchester in Hamburg auf.

Hamburg. Plötzlich und unerwartet kamen die Herren Sting und Peter Gabriel, zwei Stars der populären Musik für die reifere Generation und einander sonst so fern wie Jupiter und Saturn, unabhängig voneinander auf die gleiche, scheinbar entlegene Idee. In einem Anfall von künstlerischem Vorruhestandsehrgeiz dachten sich die Songschreiber und Sänger, Ikonen des Pop seit den 70er-Jahren, es sei an der Zeit, mit einem Sinfonieorchester zu musizieren. Gabriel unterwarf sich dem Imperativ "No guitar, no drums" und brachte im Februar das Album "Scratch My Back" auf den Markt. Sting zog im Sommer mit "Symphonicities" nach. Seit Monaten sind die beiden auf Tournee, jetzt gehen sie mit ihrem so ähnlichen Kometenschweif in kurzem Abstand in der O2 World Hamburg nieder.

Sting und Peter Gabriel sind nur anderthalb Jahre auseinander. Doch unterschiedlicher um die 60 als die beiden britischen Musikgenies kann man kaum sein. In engen Blue Jeans, halb offenem weißen Hemd und coolen Boots gibt Sting, der am heutigen 2. Oktober 59 Jahre alt wird, mit seinem kürbisfarbenen, nachlässig frisierten Haar, Frauenmagazine nennen das Out-of-bed-Look, den ewigen Sexy Boy. Man spürt förmlich das leise Erschauern in den Gemütszentren der meisten Damen, als er die Bühne in Kopenhagen betritt. Peter Gabriel, 60, stellt sich in weiten Hosen, knielangem Kaftan und überm rundlichen Bauch zugeknöpfter grauer Weste vor sein Leipziger Publikum und sieht in diesem Aufzug aus wie der Anführer einer westlichen Sufi-Gruppe, die sich in spiritueller Selbsterfahrung übt. Das Resthaar steht auf dem Kopf wie eine frisch gemähte Hinterhofwiese in Grau, der Walter-Ulbricht-Gedächtnisbart macht ihn nicht jünger. Aber eine erotische Leitfigur war er ohnehin nie. Dorian Gray der eine, Frühweiser der andere.

Vermählungsversuche zwischen Pop und den aufrauschenden Klängen eines ganzen Sinfonieorchesters sind fast so alt wie die Popmusik selbst. Wahre Fans können auf die höheren Weihen durch die ehrwürdigste Bandformation des Abendlands gut verzichten und fürchten derlei Fusionen wie der Teufel das Weihwasser. Allenfalls im Studio ausgetüftelte Legierungen zwischen dem akustischen Instrumentarium vom vorvorletzten Jahrhundert mit zeitgenössischen Sounds ließ man sich gefallen. Aber live endeten solche Versuche meist in schwerem Gerumpel. Symphonieorchester klingen naturgemäß etwas schwerfälliger, der Einschwingvorgang eines auf der Geige erzeugten Tons ist ein anderer als der unmittelbare Biss eines Akkords auf der E-Gitarre.

Deshalb war auch für Sting und Peter Gabriel klar: So wie "Pop with Strings" wollten sie mit ihren Orchestern auf keinen Fall klingen. Den gefürchteten pompösen Klangbrei aus der Addition Rockband plus Orchester vermeiden beide durch einen Trick: Sie verzichten einfach auf die Rockband.

Na ja, fast. Sting schafft es nicht ganz. Bei ihm sitzen zwei Percussionisten vorn in der Bühnenmitte, ein Solobassist und sein langjähriger Gitarrist Dominic Miller stehen ihm zur Seite. "Diese Musik braucht einen Puls. Wir spielen ja keine Symphonien. Aber ein Schlagzeug funktioniert in dem Kontext nicht. Das macht zu viel Lärm und schmeißt die Balance im Orchester über den Haufen", sagte Sting kürzlich dem Abendblatt nach dem umjubelten Konzert im alten Königlichen Theater in Kopenhagen. Anfangs hatte er nur einen Percussionisten. "Aber da wurde ich nervös, das war mir zu diskret. Vielleicht bin ich da noch zu unsicher. Aber wissen Sie, ich bin Rock-'n'-Roll-Musiker. Ich muss Crash-Becken hören."

Peter Gabriel ist der Radikalere, Mutigere der beiden. Vor einem Auftritt mit seinem New Blood Orchestra in Leipzig sagte er: "Ganz manchmal vermisse ich den Druck einer Band, etwa bei 'Digging In The Dirt'. Das ist so ein Funk-Stück, da fehlte mir der Dreck. Aber inzwischen haben wir das ganz gut hingekriegt. Ich dachte mir, es sei aufregender, wenn ich mir Regeln auferlege und ausschließlich mit den Klangfarben arbeite, die einem Orchester natürlicherweise zur Verfügung stehen."

Erst die plötzliche Parallelliebe zum Orchester, erst diese unvermutete Verwandtschaft schärft den Blick für all das Trennende. Sting und Gabriel sind das Yin und Yang des englischen Pop für Leute, die der Rente näher sind als ihrem Berufseinstieg. Im Klang ihrer beiden so unverwechselbaren und markanten Singstimmen, in den emotionalen Valeurs ihrer Musik, in ihrem Habitus, im Verlauf ihrer Karrieren stehen die beiden einander gegenüber wie Mensch gewordene Polarität. Man könnte Tarot-Karten mit ihren Konterfeis entwerfen. Sting als Jupiter, Peter Gabriel als Saturn. Strahlender Gewinnertyp versus notorischer Grübler.

Sting ist Verführer, Liebhaber, Dandy, Peter Gabriel Beichtvater, Tröster, Schamane. Sting ist der Gaukler, der Ritter, das Kettenhemd, Gabriel der Eremit, der Mönch, das Büßerhemd. Sting ist der Hedonist, Gabriel der Asket. Sting ist das Diesseits, Gabriel das Jenseits. Sting ist das Leben, Gabriel das Leben nach dem Tod.

Gefühlte Antagonisten waren sie schon im ersten Jahrzehnt ihrer Laufbahn. Die versponnene Virtuosenband Genesis, mit der Peter Gabriel einst die 70er-Jahre einläutete, putzte Sting an deren Ende mit seinem nervös schwirrenden New-Wave-Trio The Police regelrecht von der Platte. Genesis waren Lenor, The Police waren Domestos, mit Karibik-Aroma. Als das geschah, war Peter Gabriel allerdings als Solokünstler schon über alle Berge, und Genesis war zum ersten Konsens-Dinosaurier der Rockgeschichte erstarrt.

Zwei sehr unterschiedlich verlaufene Solokarrieren später - gelegentliche Flirts mit Orchestermusik für Filme hier und mit Renaissanceliedern dort inbegriffen - treffen sich nun beide in einer ähnlichen Sehnsucht. Sie wurden zu Geigerzählern im doppelten Sinne des Wortes: auf der Suche nach Violinisten und anderen Klassik-Instrumentalisten, die die Kern-Energie der beiden Genres Orchestermusik und Rock zum Schmelzen, zum Explodieren, zum Leuchten bringen würden. Stings Begleiter, das Royal Philharmonic Concert Orchestra, ist eine gute Crossovertruppe, Peter Gabriel hat seine Leute handverlesen. Bei ihm klopften Spitzenleute an, weil sie das Konzept des New Blood Orchestra reizte. Und beide sagen übereinstimmend: Mehr davon! Weil Sting mehr Pop ist als Peter Gabriel, klingen auch seine orchestralen Panoramen gefälliger, selbst da, wo er, wie in "Next To You", das Orchester mit einem Hunger losspielen lässt, als seien die Musiker noch süße 16 und als ginge es zum ersten Mal auf Klassenfahrt.

Neben Stings Mikrofonständer steht ein zweites Stativ mit einem Tamburin, das er viel schlägt. Peter Gabriel rührt sich die erste Stunde seiner Show, in der er die langsamen, stellenweise düsteren Songs der Platte "Scratch My Back" alle der Reihe nach singt, nicht vom Fleck. Vibrierend der eine, ernst wie ein Trauerredner der andere. Beide helfen ihrem schütteren Textgedächtnis mit Telepromptern auf, Gabriel macht davon zu Beginn den ungenierteren Gebrauch.

Sting hat seine Stimme phänomenal gut unter Kontrolle. Auch wenn er mehrere Takte lang A-cappella-Melodien mit reichlich Intervallsprüngen singt, landet er beim Wiedereinsetzen des Orchesters millimetergenau auf dem richtigen Ton. "Ich hab ganz gut auf mich aufgepasst", sagt er. "Ich mache meine Aufwärmübungen, rauche nicht, jedenfalls keine legalen Substanzen, und trinke mäßig. Eine Stimme muss sein wie guter Wein: Sie muss besser, reicher werden mit den Jahren. Und ich nehme das Singen ernst. Ich kann ja sonst eigentlich nichts."

Kokette Selbstauskunft eines Mannes aus der nordostenglischen Provinz, der es vom Sohn eines Milchmanns zum Multimillionär mit Ländereien in der Toskana und eigener Wein-, Honig- und Salamiproduktion gebracht hat. Er singt ausschließlich Perlen aus seinem eigenen Song-Repertoire, das jeder rückwärts kennt, der die letzten 30 Jahre nicht komplett verschlafen hat. Dabei geht Sting das Material mit der schöpferischen Fantasie eines Jazzmusikers an. "Roxanne" hat er arg verlangsamt, "Fragile" um noch ein paar Harmonien erweitert, und der 9/8-Takt in "I Hung My Head" rollt und schwingt, dass einem das Herz aufgeht.

Wo Sting das Orchester wie einen austrainierten Mittelgewichtsboxer tänzeln und zuschlagen lässt, hat Peter Gabriel nichts Geringeres geschaffen als ein neues Genre. Das wird besonders im zweiten Teil seiner Show deutlich, wo er zwei Handvoll eigener Songs singt. So ist seinem Arrangeur John Metcalfe eine überwältigende Übertragung von "The Rhythm of The Heat" geglückt, einer Nummer aus den 80er-Jahren, als Gabriel die Kraft und das Mysterium afrikanischer Rhythmen entdeckte und mit seinen Songschreiberkünsten verband. Wie das Trommelchaos der letzten beiden Minuten dieses Songs zum Klangdschungel von Bogenschlägen auf den Saiten und den aberwitzigsten rhythmischen Verschränkungen im Orchestersatz wird: Das allein schon lohnt den Besuch des Konzerts.

Die Veranstalter barmen. Ohnehin schon liegen Tickets für die meisten Hallenkonzerte in diesen wirtschaftlich klammen Zeiten wie mit einem geheimen Bleifaden beschwert in den Vorverkaufskassen. Und dann kommen diese zwei noch halbwegs sicheren Umsatzbringer ausgerechnet mit einem Symphonieorchester! Billiger oder schlanker in der Produktion ist das nicht. Gabriel reist mit fünf Sattelschleppern und vier Nightliner-Bussen für die Crew, bei Sting ist es ähnlich.

Jede Geige, jedes Horn wird separat verstärkt. Um den Sound des Orchesters in der Sportarena halbwegs erträglich zu machen, fahren die Tonleute gigantische Technik auf und müssen damit immer noch Wunder gegen die akustischen Unzulänglichkeiten der Halle vollbringen.

Und weil Popstars Popstars bleiben, auch wenn sie vor etwas so Altmodisches wie ein Orchester treten, muss es auf der Bühne und um die Bühne herum ordentlich blinken und leuchten. Ist ja kein Gala-Abend à la Jonas Kaufmann oder Rolando Villazón. Wie gewohnt liefern Sting und Peter Gabriel deshalb ihrem Publikum Spektakuläres fürs Auge; so viel Vertrauen in die Kraft des Hörens allein haben beide dann doch nicht.

Erst am Ende ihrer Shows scheinen sich die Münzwerte der beiden für einen Moment zu vertauschen. Sting stellt sich wie ein fahrender Sänger ans Mikro und singt ganz allein ohne jede Begleitung ein paar Strophen von "I Was Brought To My Senses". Ergreifend. Und Peter Gabriel gibt dem Volk endlich das einzige Mitklatschlied, das er je geschrieben hat, auch wenn's im 7/4-Takt steht, hoppelt wie ein ausgelassener Guru über die Bühne, singt sein "Solsbury Hill" und lächelt - zum ersten Mal an diesem unvergesslichen Abend.

Peter Gabriel & New Blood Orchestra: 3.10., 20.00, O2 World, Tickets 49,80 bis 95,80

Sting & Royal Philharmonic Concert Orchestra: 19.10., 20.00, O2 World, Tickets 66,30 bis 146,80