Nach 750 000 Jahren bahnt sich wieder eine Umpolung der Erde an. In einem Wald bei Cuxhaven misst Peter Bröhldick die Veränderungen.

Cuxhaven. Der Weg zu den letzten Geheimnissen des Erdkerns zweigt an einer Kuhwiese ab und führt zu einem abseits gelegenen Fachwerkgebäude mitten in einem dichten Kiefernwald. "Erdmagnetisches Observatorium" steht auf einem kleinen Schild an der Auffahrt. Es ist ein einsamer Job, den Peter Bröhldick hier in der Wingst bei Cuxhaven als letzter und einziger Mitarbeiter des Observatoriums zu erledigen hat.

Bröhldick trägt T-Shirt und Freizeithose, hat die Sonnenbrille locker ins Haar gesteckt, als er aus dem Haus tritt, um den seltenen Besuch zu begrüßen. "Wald-Peter" nennen ihn seine Freunde schon mal spöttisch. Dabei ist es wohl alles andere als hinterwäldlerisch, wozu die Daten benutzt werden, die er hier jeden Tag ermittelt: Mit hochempfindlichen Präzisionsapparaten bestimmt der 47 Jahre alt Elektrotechniker weitab vom störenden Elektrosmog der Städte für das Geoforschungszentrum Potsdam die täglichen Schwankungen und Feldstärken unseres Erdmagnetismus.

Und da beobachten Forscher eine beunruhigende Entwicklung, die sich noch verstärken könnte: Die Kraft des Erdmagneten schwindet, wird mit jedem Jahr weniger. "Wir bemerken hier in der Wingst, dass die gemessenen Werte geringer werden, allerdings noch sehr langsam", sagt Peter Bröhldick und schaut die ehrfürchtig schweigenden Besucher an. Der Wind rauscht in den Wipfeln des Waldes. Irgendwo knackt ein Ast. Dann ist wieder nur der Wind zu hören. Gut 3000 Kilometer tief unter dem Waldboden liegt dieses geheimnisvolle Kraftwerk, das seit Jahrmilliarden das Magnetfeld der Erde schafft.

Es entsteht, so viel weiß man, durch Drehbewegungen zwischen dem flüssigen äußeren und dem festen inneren Kern. "Geodynamo" nennen es manche Wissenschaftler daher. Doch warum es sich dreht, darüber gibt es viele mögliche Erklärungen, aber keine endgültige Gewissheit. Wer religiös ist, mag auch eine göttliche Kraft dahinter vermuten. Man sieht es nicht, hört es nicht, riecht es nicht - und doch erfasst es den gesamten Erdball. Manche Tiere haben Rezeptoren dafür entwickelt. Zugvögel, Tauben oder auch Wale nutzen das Magnetfeld der Erde zur Orientierung. Der Mensch nutzt diese Kraft eher handfest, seit Seefahrer sie vor Hunderten vor Jahren für sich als Navigationshilfe entdeckt hatten, um den magnetischen Nordpol zu bestimmen.

Aber das Magnetfeld wirkt eben nicht nur an der Erdoberfläche. Anteile davon umgeben in mehr als 100 Kilometer Höhe die Erde wie eine unsichtbare Hülle, die als Schutzschild gegen gefährliche kosmische Strahlung funktioniert. Doch um gut zehn Prozent ist die Stärke geschwunden, seit der Mensch vor 170 Jahren begonnen hat, es wissenschaftlich zu messen.

Warum das Magnetfeld schwächelt, ist noch längst nicht geklärt. Das Phänomen könnte aber, so wird vermutet, ein Vorbote für eine völlige Umkehr der Pole sein. Nordpol wäre dann nicht mehr der Nordpol, sondern Südpol. "Es ist möglich, dass die Abschwächung des Dipolmoments auf eine bevorstehende Umpolung hindeuten könnte", sagt der Geowissenschaftler Hans-Joachim Linthe, der von Potsdam aus das Observatorium in der Wingst leitet.

Tatsächlich hat es solche Umpolungen im Laufe der Erdgeschichte mehrfach schon gegeben. Das haben Forscher vor einigen Jahren erst entdeckt: Bestimmte Lavagesteine haben ihre ursprüngliche Magnetisierung quasi konserviert. Im Durchschnitt alle 500 000 Jahre, so die Theorie, erlebt die Erde eine solche Umpolung.

Die letzte ist ungefähr 750 000 Jahre her - man könnte also sagen, ein solches Phänomen sei längst überfällig. Jüngst erst publizierten US-Wissenschaftler, dass eine solche Umpolung nicht 1000 Jahre benötigen würde, wie oft vermutet, sondern sich auch innerhalb weniger Jahre vollziehen könnte. Darauf deuten Gesteinsfunde, die 1995 in Oregon entdeckt wurden. Jetzt gab es neue Funde in Lavaströmungen im US-Bundesstaat Nevada mit ähnlichen Hinweisen auf eine rasante Umpolung, wie das Fachblatt "Geophysical Research Letters" berichtet.

Was Geoforscher Linthe und seinen Techniker Bröhldick derzeit besonders beschäftigt, ist die kosmische Strahlung, auch Sonnenstürme. Diese werden ausgelöst durch Eruptionen auf unserem hellen Leitgestirn. Denn das Magnetfeld der Erde schützt nicht nur vor kosmischer Strahlung, es reagiert auch empfindlich darauf. Um das zu zeigen, bittet Bröhldick ins Haupthaus seiner versteckten Anlage in der Wingst. Früher wohnten hier noch mehrere Mitarbeiter im ersten Stockwerk, heute erinnert das Haus an ein verlassenes Museum. Das Messing alter Messinstrumente glänzt im Flur, in einem Büro stapeln sich alte Akten, ein Schaltkasten wie in einem Eisenbahnerhäuschen aus der Vorkriegszeit hängt an der Wand. "Ja", sagt Bröhldick, "ein bisschen ist das ja auch wie ein Museum." Obwohl viele Messungen mittlerweile automatisch ablaufen, hat das Observatorium doch die alten Geräte behalten. Gelegentlich führt Bröhldick Schulklassen durch die Räume und erklärt, wie man früher das Magnetfeld gemessen hat.

In einem Nebenraum flackern jedoch etliche Computer-Bildschirme. Das Museum ist hier zum Kontrollzentrum geworden. Bahnt sich ein Sonnensturm an, erscheinen die Linien und Zacken auf den Rechnern plötzlich hektischer. "Wir machen hier sozusagen auch so etwas wie die Vorhersage zum Weltraumwetter", sagt Böhldick. Alle zehn Sekunden messen die automatischen Fühler auf dem Gelände die aktuelle Stärke des Magnetfelds und geben die Daten ins Internet. Kosmische Strahlung erhöht die Werte. Satellitenbetreiber wissen dann, dass ein Sonnensturm droht und können rechtzeitig die empfindlichen Paddel mit Sonnen-Kollektoren einfahren, damit sie nicht beschädigt werden. Radiosender bekommen Hinweise, dass ihre Sendeleistung geschwächt werden könnte. GPS-Dienste werden vorgewarnt, dass der Betrieb gestört werden könnte. Fluglinien stellen sich auf Messstörungen ihrer Elektronik ein. "Ein paarmal im Jahr haben wir solche Ereignisse", sagt Bröhldick.

Sonnenstürme und GPS - davon ahnte wohl niemand etwas, als 1937 die Kriegsmarine das Observatorium bauen ließ. Der Standort erschien ideal. Die Wingst liegt auf einer hohen eiszeitlichen und sandigen Endmoräne mitten im einsamen Elbe-Weser-Dreieck. Im Untergrund gibt es kein erzhaltiges Gestein, das die feinen Magnetfühler ablenken können. Noch heute darf in einem Schutzkreis von 1000 Metern kein Eisen verbaut werden. Der nahe Zoo in der Wingst hat daher Zäune aus nichtmagnetischem Edelstahl. Einsam ist der Wald und fernab von größeren Siedlungen. Ideal nicht nur für exakte Messungen. Das Observatorium wurde 1937 als abgelegenes Gehöft getarnt, selbst von der Luft aus gesehen erschien es als bedeutungsloser Waldbauernhof. Eine Vorsichtsmaßnahme: Denn mit den Messungen des Magnetfelds und seiner Veränderungen sollten so für den U-Boot-Krieg möglichst genaue Seekarten geschaffen werden.

Nach dem Krieg ging das Observatorium an das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydragraphie (BSH). Hauptaufgabe war viele Jahrzehnte weiter die Datensammlung für Seekarten. Ein gutes Dutzend Leute arbeiteten und wohnten teilweise in dem damals einzigen westdeutschen Magnet-Observatorium. Heute teilen sich BSH und Geoforschungszentrum die Anlage, die demnächst komplett in die Zuständigkeit Potsdams gehen könnte, um dann noch mehr Daten für die Grundlagenforschung des Erdmagnetismus und seines geheimnisvollen Schwächelns zu sammeln. Weltweit gibt es noch immer rund 200 solcher Observatorien, obwohl inzwischen auch Satelliten einen Teil der Messungen übernommen haben und vieles in der Wingst eben automatisiert wurde. Nur Peter Bröhldick, der 1991 dort angefangen hat, ist noch da - und wird auch gebraucht: zur Überwachung der Anlage und für Routinemessungen von Hand, um die Genauigkeit der Sensoren zu prüfen.

Das macht er im sogenannten "Absoluthaus". Abseits von den anderen Gebäuden liegt es im Wald - weitab von den Wegen, weil selbst die elektromagnetische Strahlung eines Handys die Messinstrumente schon stören können. "Absoluthaus meint, dass absolut kein Eisen dort verbaut wurde", sagt Bröhldick und öffnet die Tür. Ein saalartiger, dunkler Raum breitet sich dahinter aus. Aus den geschlossenen Fensterläden dringt diffuses Tageslicht. Mittendrin steht eine hüfthohe, schwere Marmorsäule. Darauf ein Magnometer, ein Gerät, das wie ein überdimensioniertes quer liegendes Mikroskop aussieht.

Bröhldick öffnet drei Fenster zu den Bäumen und der Saal bekommt eine Stimmung irgendwo zwischen Sakralbau und Waldhütte. Der Techniker peilt dann feste Marken auf Betonpfeilern im Wald an, um das Gerät auf den geografischen Nordpol einzustellen. Dann misst er das Magnetfeld, die aktuelle Abweichung des magnetischen Pols und die Stärke der unsichtbaren Hülle, die da viele Tausend Meter über dem Wald in der Wingst wirkt. "Magnetisch ganz schön was los", sagt er plötzlich. Ein Sonnensturm scheint sich dort oben anzubahnen, kosmische Strahlung wird Richtung Erde geschleudert. Doch die Kraft aus ihrem geheimnisvollen Kern wird sie wieder abwehren können.

Ob für alle Ewigkeit - das scheint fraglich geworden zu sein.