Der Sportler Achim Aretz bewältigte den Blankeneser Halbmarathon im Rückwärtslauf. Seine Geschichte vom Ziel bis zum Start.

Blankenese. Endlich im Ziel. Geschafft! Doch wer fast zwei Stunden rückwärts lief, muss Kopf wie Körper sortieren und Orientierung finden. Besonders dann, wenn Fernsehteams von NDR und Sat.1 schon mit Kamera und Mikrofon warten. Erst einmal jedoch reckte Achim Aretz seine strapazierten Glieder, massierte kurz die schmerzenden Waden und holte tief Luft. Gut 20 Kilometer rückwärts gewandt dem Schlusspunkt zuzustreben, wenn alle anderen Mitläufer ihre Augen nach vorne gerichtet haben, verlangt körperliche Beherrschung sowie einen individuellen Geist.

Und Mut. Heldenmut. Wie ihn auch die anderen 3099 Athleten bewiesen, die beim 8. Blankeneser Heldenlauf gestern an den Start gingen. Applaus der Zaungäste an der Wegstrecke des Halbmarathons machte den Hobbysportlern Beine. Bei der abschließenden Feier auf dem Blankeneser Marktplatz fühlte sich jeder wie ein Sieger. Zu Recht! Und Alternativsportler Aretz trug seine Medaille nicht auf dem Rücken, sondern, ganz normal, vorne. Sein Kunststück hatte er in 1:44:53 Stunden absolviert und dabei das Gros der Vorwärtsläufer überholt. Viele blickten verblüfft, als sie von einem mit den Hacken voran passiert wurden.

Schnellster Mann auf gewöhnliche Weise war Mike Poth (1:15:18), bei den Frauen war Sabrina Jungjohann (1:38:24) Erste.

Zweimal jaulte Aretz' innerer Schweinehund besonders heftig. Bei Kilometer 17, einer Treppe mit dem passenden Namen Falkenschlucht, hatte er seinen schwachen Punkt. Träumte von Mineralwasser und Pommes frites am Ziel. Schon am Polterberg drei Kilometer zuvor wurde der Weg zur Hölle. "Gefühlte 300 Stufen", sagte der junge Mann später. Dabei sind es insgesamt "nur" 188. Rückwärts, natürlich.

Am Tafelberg ratterten die Beine wie in Trance; die Muskulatur verrichtete Dienst nach Vorschrift. Jetzt zahlten sich die Trainingsstunden am Aasee daheim in Münster aus, die der 26 Jahre alte Geowissenschaftlicher täglich absolviert - gegen den Strom. Seine Bewerbung für eine Promotion auf dem Klima-Campus in Hamburg will er im September einreichen.

Auf die Idee, anders zu rennen als die anderen, kam der gebürtige Essener nach einer feuchtfröhlichen Nacht im Kommilitonenkreis. Als der angeschlagene Laufpartner nicht so recht konnte, schlug Aretz vor: "Dann mach ich's rückwärts." Aus einer Gaudi wurde Leidenschaft. Zumal er feststellte, dass auch andere von der Norm abweichen. Aretz nahm an den Weltmeisterschaften 2008 in Italien und 2010 in Österreich teil. Er hält den Weltrekord über 10 000 Meter und über die Halbmarathon-Distanz. Damit steht er im Guinnessbuch der Rekorde.

Den Traum von einer neuen Bestmarke in Hamburg legte Achim Aretz schon auf halber Strecke ad acta. Mit Hügeln und Treppen hatte er nicht gerechnet: "Ich dachte, Hamburg sei platt." Regennasses Gras und tückische Wurzelstränge auf dem Waldboden bereiteten echte Probleme. Die von einigen Rückwärtsläufern praktizierte Technik, Rückwärtsspiegel am Laufdress zu befestigen, lehnt Aretz ab: "Ich schaue mich lieber um." Je unebener das Geläuf, desto öfter.

Kurz nach dem Start am Mühlenberger Elbufer hatte er einen guten Lauf. Von den Mitstreitern respektvoll und ein bisschen neugierig begrüßt, reihte sich Aretz in das vordere Drittel des Teilnehmerfeldes ein. Aug in Aug mit den Kollegen. Die Frage nach dem speziellen Reiz der eher unkonventionellen Fortbewegungsart beantwortete er mit vier wegweisenden Pluspunkten. Rückwärtslaufen sei knieschonender und schule die körperliche Koordination. Zudem sehe man die zurückgelegte, nicht die bevorstehende Strecke. Und: Der alternative Stil diene der Meditation. Nicht ohne Grund, sagt Aretz, sinnieren Millionen Chinesen, während sie ihre Schritte verkehrt herum lenken.

Den Ritterschlag für Achim Aretz gab es am Ziel, den Handschlag vom Veranstalter schon am Start. Alexander Extra, promovierter Literatur- und Sportwissenschaftler sowie Erfinder des Blankeneser Heldenlaufs, interviewte den laufenden Paradiesvogel via Lautsprecher. Als Extraservice bewahrte er Aretz' Rucksack auf. Denn übernachtet hat der Athlet in der Jugendherberge in Horn - für 20 Euro im Sechserzimmer. "Das ist Luxus", sagte er vor der Rückfahrt mit dem Zug, "denn sonst zelten wir immer vor dem Start."