Hurrikan “Katrina“ verwüstete New Orleans. 42 Milliarden Dollar flossen, die Stadt ist wieder aufgebaut. Selbstverliebt wie eh und je.

Barack Obama wird bei seinem Besuch in New Orleans zu "Katrinas" fünftem Jahrestag am 29. August eine geläuterte Stadt erkennen: wehrhaft und fluchtbereit wie nie zuvor, selbstmitleidig und selbstverliebt wie je, im Gesicht das schiefe Mardi-Gras-Grinsen, mit dem die Stadt nach dem Hurrikan einigen Politikern, die New Orleans fluten und für immer vergessen wollten, die Zähne zeigte. Von Demut, die nach Dutzenden Milliarden Wiederaufbau-Dollar aus dem Tropf Washingtons geboten wäre, ist nichts zu spüren. Der Vulkan, auf dem hier die Leute zum Dixieland tanzen, liegt unter dem Meeresspiegel wie seit bald 300 Jahren. New Orleans ist noch und wieder da, hässlich und verfressen, gefährlich und großartig, im Glück wie in der Flut. "Big Easy", von verschmähten Liebhabern auch Dis-Ease genannt, ist der Schönheitsfleck im Angesicht Amerikas.

Gerade hatten sich die Menschen erholt, da traf sie die BP-Ölpest

Der Präsident wird den 560 Kilometer langen Schutzring aus Deichen, Flutwänden, Toren, Pumpen rühmen, den das Army Corps of Engineers bis Sommer 2012 um New Orleans errichten wird. Er wird Fortschritte in den Schulen der Stadt loben, er wird besser schweigen über die schießwütige US-Mordhauptstadt samt seiner berüchtigt korrupten Polizei. Die Honoratioren und der Präsident werden sich zusammen Mut antrinken, einen frühen Toast auf den 300. Geburtstag im Jahr 2018 ausbringen. Die Menschen an der Golfküste hatten sich von dem brutalen Tiefschlag "Katrinas" gerade erholt, als die BP-Ölpest sie wieder unter der Gürtellinie traf. "Unsere Zukunft ist nicht allein das Überleben", sagt Bürgermeister Mitch Landrieu mit dem ortsüblichen Pathos, "sondern Auferstehung, Erlösung." New Orleans kann so kitschig sein.

Es versteht sich und gehört sich auch, dass New Orleans in diesen Tagen von Erinnerung, Gedenken, Fronterlebnissen überflutet wird. Das Trauma "Katrina" nimmt in der fünften Jahreszeit der Hurrikane Gestalt an und bewegt sich in Fluchtbereitschaftsritualen: früher sorglos vor Labor Day Anfang September weggefahren, heute bleibt man zu Hause, ein Auge fest auf das Wetter in der Karibik gerichtet.

Die Tiefkühltruhe wird seit 2005 entleert und abgetaut, mit Dosennahrung gefüllt für Tage ohne Strom; der Propangas-Tank im Garten wird gefüllt für das Grillen während des "Blackout"; die Versicherung wird bezahlt, die Computerdaten sind auf externen Festplatten gesichert, die Evakuierungsliste ist aktualisiert - was kommt ins Auto, was wird wasserdicht verpackt zurückgelassen, was den Elementen preisgegeben?: "Im August und September", notierte Bruce Bolan, Reporter der "Times-Picayune", "sind wir wie Opfer von Überfällen, die instinktiv die Flecken der Dunkelheit zwischen Straßenlaternen vermessen." In einem großen Essay, der beschreibt, "wie Hurrikan ,Katrina' uns für immer verändert hat", kommt Bolan zu einer weniger schmerzhaften Analogie: "Fünf Jahre nach dem schlimmsten Ereignis in seiner Geschichte ist New Orleans physisch und psychologisch wie ein Patient, der Verbrennungen am ganzen Körper erlitten und überlebt hat."

Kein noch so drastischer Vergleich scheint übertrieben. Welche Stadt in den Vereinigten Staaten (oder in der westlichen Hemispäre) hat in moderner Zeit je erduldet, was über New Orleans und Louisiana am 29. August 2009 hereinbrach? Man muss sich erinnern: Nach den Deichbrüchen standen 80 Prozent des Stadtgebiets unter Wasser, nahezu 1500 Menschen waren tot, Tausende verwundet, Zehntausende von der Zivilisation abgeschnitten, ohne Wasser, Ärzte, Ordnung; 182 000 Häuser zerstört, 200 000 Menschen auf der Flucht, zerstreut in formaldehydverseuchten Wohnwagen des Katastrophenschutzes FEMA, oder zu Mitleidigen nach Houston, Atlanta, bis nach New York.

New Orleans, trotz und wegen seines Jazz und Cajun-Charmes immer eine harte, von Armut, Korruption und Verbrechen versehrte Stadt, wurde nach dem schändlichen Versagen der Bundesregierung vor aller Welt ein Pflegefall. Die Menschen wuchsen in ihrem geteilten Elend über sich hinaus oder fielen in Depressionen. Die heroische Nachbarschaftshilfe im armseligen Lower Ninth Ward wurde sogar in wissenschaftlichen Studien ("A Paradise built in hell", Rebecca Solnit, 2009) untersucht. Und Amerika, mit furchtbar schlechtem Gewissen, umarmte die versunkene Stadt und spendierte ihr in acht Tagen 580 Millionen Ablass-Dollar.

Dabei blieb es nicht. Die US-Steuerzahler sorgten mit großzügigen Spenden in den folgenden Monaten und Jahren für gewaltige Geldströme, so konnte New Orleans die Rezession fast ungestört verschlafen. Am Ende haben 42 Milliarden Dollar Aufbauhilfe nicht verhindert, dass die wichtigsten Industrien der Stadt - Öl, Gas, Werften, der Hafen - weiterschrumpften. Noch heute fehlen, verglichen mit 2004, mehr als 100 000 Arbeitsplätze. Ein Viertel der vor dem Sturm geflohenen Bürger kehrte nie zurück. Entweder weil sie besser bezahlte Arbeit fanden oder weil sie die Reparatur ihrer Häuser nie bezahlen könnten. Der Schiffbau- und Rüstungskonzern Northrop Grumman kündigte im Juli an, seine Werft in Louisiana zu schließen; 5000 Jobs wird das kosten. Lockheed Martin in New Orleans hat 1500 Mitarbeiter entlassen. New Orleans kann so traurig sein.

Hoffnung stiften die Neuankömmlinge, die Akademiker und Filmemacher

Im 460 Millionen Dollar starken Haushalt der Stadt klafft eine Lücke von 79 Millionen, die Mitch Landrieu durch Personalabbau in der Verwaltung und zwei Wochen "Zwangsurlaub" für städtische Bedienstete zu schließen hofft. Landrieu weiß, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen 15 000 jungen schwarzen Männern, die pro Jahr die Highschool hinwerfen, und den 15 000, die im Gefängnis landen. "Wir haben noch einen langen Weg zu gehen." In den Gedenkstücken der Medien zum "Katrina"-Jahrestag treiben die ungelösten Kriminalfälle ins Bewusstsein: Hatten die Polizisten von ihrer Führung Befehl bekommen, Plünderer zu erschießen? Starben die alten Menschen, die Hilfe in einer Klinik der Stadt suchten, durch die Hand eines Mörders mit Euthanasiefantasien?

New Orleans kann so trostlos sein.

Hoffnung stiften Neuankömmlinge in Bio- und Informationstechnologie sowie die (hoch subventionierte) Filmindustrie. Es heißt, die Stadt ziehe zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten junge Akademiker an. Lehrer, Anwälte, Künstler suchen das einmalige kulturelle Klima und schützen es so erst vor Blutarmut. Sie werden in Gruppen wie "Citizens for 1 New Orleans" und "Women of the Storm", die Bürgerzorn in Reformbewegungen bündeln, willkommen geheißen. Es waren die Heere von Freiwilligen aus dem ganzen Land, die das von allen guten Geistern und fähigen Beamten verlassene New Orleans vor der Flut und sich selbst retteten. Viele der Jungen blieben, nachdem sie beim Wiederaufbau eine Heimat für sich entdeckt hatten. Mit den freiwilligen Helfern teilen die Alteingesessenen die kriegsähnlichen Erfahrungen der ersten schlimmen Tage. Noch ein Jahr danach war es üblich, einander mit einem "So, howd you make out?" zu begrüßen. Die Frage, "Na, und wie kamst du zurecht?", war die Parole unter Veteranen. Jeder hatte seine verrückte Geschichte. Jeder hatte geliebte Menschen verloren, an die Flut oder ans Exil, die meisten ihre Existenz und ihr Heim, alle ihre Sicherheit. Die netten, gebildeten Freiwilligen, die keine Anträge verlangten und kein Bestechungsgeld, wurden ehrenhalber in den Bund der "Katrina"-Frontkämpfer aufgenommen. Es mag ähnlich gewesen wie in den 60er-Jahren, als jüdische Kids von der Ostküste in den Süden fuhren, um mit den Schwarzen gegen den Rassismus zu marschieren.

Weniger willkommen, als sie es verdienen, sind die Latinos, die zu Tausenden gerufen wurden, als die Schwarzen aus ihrer "Chocolate City" flohen. Die Latinos hatten den Nerv zu bleiben, als das Gröbste getan war, ihre Familien nachkommen zu lassen und ihr "Enchilada Village" zu errichten. Die absolute Zahl ist nicht hoch, das Anschwellen von 4,4 Prozent im Jahr 2000 auf knapp zehn, wie Schätzungen lauten, erzürnt die Schwarzen, die ihre billigen Jobs besetzt und Stundenlöhne unterboten fanden. Die ersten Latinos schliefen unter Brücken, dann in Zelten, ihre Anspruchslosigkeit und ihre harte Arbeit provozierte. Manche glauben, dass die schwarzen Tagelöhner in den Untergrund getrieben wurden. Sicher ist, dass sich Mieten in renovierten Apartments und Häusern nahezu verdreifachten. Ihre Bewohner wurden ausgespien. "Unity of Greater New Orleans", eine Gruppe, die sich um Wohnsitzlose kümmert, schätzt, dass sich die Zahl ihrer Klienten seit "Katrina" auf 12 000 verdoppelt hat. Etwa die Hälfte kampiere in den 55 000 nach dem Sturm als unbewohnbar aufgegebenen Häusern. Sie vegetieren in Schimmel und Ungeziefer. Es heißt, sie schätzten das Dach über dem Kopf und den Schutz vor Wegelagerern.

Es sind im Dutzend bewundernde und deprimierende Bücher über den Sturm und die Menschen im "Big Easy" verfasst worden, die neben ihren Habseligkeiten ihre Leichtigkeit für Jahre verloren. Der Historiker Douglas Brinkley verzeichnete den Verlust in seinem Buch "Deluge" (2006), dem noch immer genauesten, unübertroffenen Tagebuch einer untergehenden Stadt. Heute spottet er in Spike Lees Dokumentarfilm "If God Is Willing And Da Creek Dont Rise" über den Hang zur "knieweichen Protzerei" in New Orleans, der nur die Minderwertigkeitsgefühle tarne. Lees Vier-Stunden-Hommage kommt nicht heran an seinen erschütternden "Katrina"-Film "When The Levees Broke: A Requiem In Four Acts" (2006), der mit rühmenden Kritiken und Preisen überhäuft wurde. Als der Regisseur 2009 zurückkehrte, suchte er Hoffnung, Aufbruch, wenigstens tröstliches Gras über Ruinen. Und Lee fand seine Helden und sogar, unverhofft, ein grandioses Finale Ende Januar mit dem ersten Sieg der New Orleans Saints im Football-Superbowl nach 42 Jahren.

"Ich hätte mein Haus auf die Saints gewettet", sagt Spike Lee. Mitten im Karnevalsüberschwang von Mardi Gras wirkte der Sieg wie Kokain. Die Stadt feierte sich und das Team in therapeutischer Besinnungslosigkeit. Alles war endlich vergessen, selbst "Katrina".

Lee und seine Teams reisten ab in dem Gefühl, die Auferstehung der Stadt dokumentiert zu haben. Dann kam der 20. April. Die neue, mutige Normalität in New Orleans explodierte mit der "Deepwater Horizon" und starb mit elf unglücklichen Arbeitern draußen im Golf. Spike Lee kehrte für etliche Drehs zurück und musste seinen Film neu schneiden. Es gab wieder Schurken.

Nun übernahm BP die Rolle, die nach "Katrina" George W. Bush und seine katastrophalen Helfer Michael Chertoff und Michael "Heck-of-a-job" Brown spielten. Keine Toten in der Stadt diesmal, gewiss, keine Plünderungen, doch dieselbe Ohnmacht und Wut. Spike Lee glaubt wie fast alle Leute am Golf nicht den Versicherungen von BP und der Bundesregierung, das Öl sei zu Dreivierteln verdunstet, verbrannt, von Mikroben gefressen. Alles sei gut, und alles Übrige werde es bald sein. Man kann die Paranoia der Menschen von New Orleans körperlich spüren. Sie schmerzt. Nach allem, was war, muss aus Stein sein, wer sie nicht mitfühlte.