Tierschützerin und Nationalparkverwaltung streiten um Heuler und um die Frage, ob man kranke Seehunde durch den Tod erlösen darf.

Friedrichskoog/Föhr. Eben noch watschelt das Tier unbeholfen wie ein Teletubbie am Beckenrand, dann lässt es sich ins Wasser klatschen, torpedoähnlich schießt der Seehund auf ein hineingeworfenes Fischstückchen zu, taucht auf und scheint die vielen Zuschauer mit großen Augen fröhlich anzuzwinkern. Es ist Fütterung in der Seehund-Station Friedrichskoog und die Anlage in den grünen Weiten der schleswig-holsteinischen Westküste gut besucht. 170 000 Touristen kommen hier mittlerweile jedes Jahr hin. Die kleinen „Heuler“ , von ihrer Mutter verlassene Jungtiere , bekommt man zwar nur über Video zu sehen, um ihre Auswilderung nicht zu gefährden. Aber ein paar ältere Seehunde sorgen als "Dauergäste" für Kabinettstückchen. Ein wenig Zoo ist daher vielleicht dabei, ein wenig Show wohl auch - doch eine kleine, heile Robbenwelt. Wenn da nicht die streitbare Tierschützerin von der Insel Föhr wäre.

Seit Jahren schon streitet die Tierärztin Janine Bahr mit der Seehund-Station und der Nationalparkverwaltung. "Beendet das Robbenbaby-Töten", fordert sie und bekommt damit in Medien viel Widerhall. Von den amtlichen Seehundjägern und selbst in Friedrichskoog würden jährlich mehr als 200 kleine Heuler systematisch getötet, weil es nur ein bestimmtes Aufzuchtskontingent gebe, behauptet sie und päppelt Heuler selbst auf - was im Land ausdrücklich verboten ist. Die Nationalparkverwaltung wirft ihr übertriebenen Tierschutz vor, der eher schadet, wie Thomas Borchardt von der Nationalparkverwaltung Wattenmeer sagt. "Überall funktioniert das System - nur auf Föhr haben wir seit Jahren diesen Konflikt", schimpft der 59-jährige Biologe.

Damit dürfte er den Kern dieses Streits getroffen haben. Letztlich geht es wohl um die Frage, wie der Mensch mit Tieren umgeht, wann sie Schutz brauchen und wann man der Natur ihren Lauf lassen muss.

Janine Bahr hat solche Fragen für sich schon lange beantwortet. "Gerade Wildtiere brauchen unseren Schutz, weil das Gottes Wille ist", sagt sie fest. Ihre E-Mails unterzeichnet die 42-Jährige mit "tierfreundlichen Grüßen". Die eher zierliche Frau wirkt ein wenig zerrieben von ihrem Kampf. In Lüdenscheid ist sie aufgewachsen, vor 16 Jahren nach Föhr gezogen. In der kleinen Seitenstraße Grönland in Wyk hat sie das "Tierhuus" aufgebaut. Ein schmales Strohdachhaus wie viele dort, Kletterrosen wuchern am Backstein, aus dem Pflaster wachsen Stockrosen. "Wild- und Fundtierhilfe" steht auf einem Schild. Im Garten sind Kaninchenställe zu sehen, Hühner, Gänse. Im Haus gibt es kleine Verschläge für verletzte Tauben, eine Katzenstation. Übertriebener Tierschutz? Wer auf der Insel bei einem Bauern nach Janine Bahr fragt, bekommt schon einmal eine grummelnde Abfuhr. Auch die drei offiziellen Seehundjäger auf der Insel sind eher verschwiegen. Vor 40 Jahren wurden die Seehunde noch geschossen im Land. Tran wurde daraus gewonnen, das Fell verarbeitet. Doch die Tiere sind nun geschützt und Seehundjäger sind jetzt ausgebildete Seehundheger, sagt Seehundjäger Willy Erichsen. Auch er möchte nicht allzu viel über die streitbare Tierschützerin reden, die auch mal mit Anzeigen zur Hand sei. "Gott, man kann diese kleine Frau mit ihrer Mission ja auch irgendwo verstehen", sagt Erichsen. "Wenn ich zum Beispiel nur Tier-Transporte im Fernsehen sehe, kommen mir die Tränen", sagt der Jäger. Doch sein Naturverständnis sei anders. Kaninchen zu schießen, die überhandnehmen, ist für ihn kein Problem. Und Seehund-Junge, wenn sie verlassen am Strand nach der Mutter heulen? "Nun", sagt Erichsen, das sei so eine Sache. "Seehunde sind eben auch große Sympathieträger bei den Touristen."

Und wohl auch bei vielen Inselbewohnern selbst. Die Tierärztin ist akzeptiert hier. Wenn Wildtiere gefunden werden, dann werden sie zuerst zu Janine Bahr gebracht, sagt auch Insel-Polizist Otto Schrödel, ein drahtiger 60-Jähriger mit grauem Schnurrbart und forschem Blick. Vor vielen Jahren hat er in der Seehund-Frage von Föhr eine Art Insel-Agreement geschaffen. "Das Festland ist weit weg", sagt er. Im Prinzip wurde daher auf Föhr jahrelang toleriert, dass die streitbare Tierärztin Seehunde-Heuler aufgenommen hat. Doch dann kam der Streit mit der Aufzuchtstation Friedrichskoog, wohin Janine Bahr nun keine Tiere mehr brachte, weil dort so viele getötet worden seien. Die Nationalparkverwaltung verdächtigt sie sogar, dass sie die Tiere zu einer Station in den Niederlanden transportiert. Nachts, heimlich in ihrem blauen Lieferwagen. Dort, so sagt Tierschützerin Bahr selbst, werde jedem Seehund geholfen.

Doch das ist auch unter Naturschützern höchst umstritten. Etwa 10 000 Seehunde leben vor der schleswig-holsteinischen Küste. Trotz einiger Seuchen in den vergangenen Jahren gilt der Bestand als stabil und derzeit auf einem Höchstniveau. Jedes Jahr werden knapp 3000 Heuler in den Sommermonaten geboren. Doch viele, etwa ein Drittel, werden tot geboren, sind krank oder werden am Strand zurückgelassen. Bei Zwillingsgeburten kümmert sich das Muttertier nur um eines ihrer Kinder. Die Natur kennt keine Knopfaugen-Moral.

Kranke Tiere, die sich an die Strände verirren, werden daher eingeschläfert. "Die natürliche Selektion wird sonst gestört, schlechte Gene in die Population getragen", sagt Nationalpark-Biologe Borchardt. Rund 80 Heuler nahm die Seehundstation Friedrichskoog in diesem Jahr auf und versucht, die Tiere auf ein Leben in der Nordsee vorzubereiten. Reines Mitleid - denn für den Bestandsschutz sei dieses Aufpäppeln gar nicht nötig.

Doch diese Aufzucht von überlebensfähigen Heulern wie in Friedrichskoog wird mitunter kritisch gesehen. Der Kontakt mit Menschen kann auch gefährliche Keime in eine Seehund-Gesellschaft tragen, sagen manche Biologen. In Dänemark gibt es daher seit 1985 gar keine Aufzuchtstationen mehr. Dort werden alle verlassenen Heuler getötet, nicht gepäppelt.

Der richtige Weg? Der Streit darüber dürfte an der Küste weitergehen. Eine radikale Position vertritt da beispielsweise der niederländische Wildtier-Experte André van Gemmert. Der Niederländer mit den grauen wilden Haaren ist ein Mitstreiter der Tierschützerin Bahr und arbeitet in der niederländischen Seehundstation Pieterburen: "Die Natur, was ist denn das?", fragt er. Der Mensch dominiere doch schon lange auch das Wattenmeer, sorge für Störungen vielerorts.

Ein Störfaktor für das natürliche Seehundleben, wie van Gemmert es sieht, wäre zum Beispiel Hennig Dulz. Der 48-jährige stämmige Mann fährt von Wyk aus raus ins Wattenmeer zu den Seehundbänken mit seinem Krabbenkutter. "Für mich gehören Seehunde zu einem funktionierenden Ökosystem dazu - und wenn es ihnen hier gut geht, geht es uns auch gut", sagt Dulz, der das Argument mit der gestörten Natur so nicht gelten lassen will. Wenn er an den Seehund-Sandbänken dicht vorbeituckert, nehmen die Tiere so wenig Notiz vom Schiff wie von einer vorbeitreibenden Wolke am Himmel. Mensch und Tier - sie gehören hier gemeinsam hin, so scheint es. Aber doch muss jeder in seiner eigenen Welt bleiben, sagt Fischer Dulz, der deshalb wenig von Aufzuchtstationen und Hochpäppeln von gefundenen Tieren hält: "Vielleicht sollte man das alles der Natur überlassen - das hat schon immer so funktioniert."