Jeden ersten Freitag im Monat trifft sich ein Seniorenzirkel im Kemp's in Pöseldorf. Gesprächsthema: die wilde Zeit mit den Beatles.

Pico hat heute eine kleine Tüte mitgebracht. Die ganze Zeit liegt sie auf dem Tisch zwischen Pils und Curry. Immer griffbereit, um jedem, der sich zu ihm setzt, unverzüglich seine jüngste Errungenschaft zu zeigen. Der Schatz, den der 65-Jährige dann voller Teenager-Euphorie herauskramt, ist nichts weiter als eine Doppel-CD. Immerhin, rund 100 Songs sind drauf, aus den guten alten Zeiten, von Elvis bis Animals. "Ku' ma' hier", ist jedes Mal sein Imperativ, "geil, wa?" - "Ja, nicht schlecht", sagt sein Gegenüber. "Wo hast'n die her?"

Sieht man Pico mal wieder im oder vor dem Kemp's im Mittelweg sitzen, dann besteht kein Zweifel: Heute ist der erste Freitagabend eines neuen Monats. Ohne Pico wäre dieser feste Termin nur halb so interessant, halb so witzig, halb so lang und halb so laut. Er ist so etwas wie die gute Seele, das treue Maskottchen der rund 20 Star-Club-Senioren, die sich seit sieben Jahren regelmäßig im Pub von Gibson und Tina Kemp treffen. Fast alle erlebten sie die Geburtsstunde der legendären Location in der Großen Freiheit 39 persönlich, einige von ihnen hörten vor exakt 50 Jahren sogar die ersten Akkorde der Beatles ein paar Hausnummern weiter, sie alle hat diese Zeit nie losgelassen. Es sind die Fans von einst, die um Pico herum sitzen, die Kellner und Bardamen, die Bierträger und Rausschmeißer, die Liebschaften und Musikliebhaber, die Gitarreros und Waschbrettspieler. "Ich hab im Star-Club alles gemacht", stellt Pico, der gelernte Autoschlosser mit der tief rasselnden Stimme eines Ex-Rauchers, klar, "alles außer Geschäftsführung und Klo." Seinen bürgerlichen Namen Salvatore Martens muss er in dieser Zeit verloren haben.

Den Monat vorher gab sich auch mal Horst Fascher die Ehre, der tatsächliche Geschäftsführer des Star-Clubs. Da saß er mit einem Strohhut auf dem Kopf auf der Terrasse des Kemp's und sah aus wie Ernest Hemingway. "Wer hat von den Deutschen mit den Beatles gesungen?", ruft er in breitestem Hamburgisch in die Menge seiner einstigen Gäste und Angestellten. Einer meint: Herbert Hildebrandt von den Rattles. Aber das ist natürlich falsch. Er selbst sei es gewesen, Horst Fascher. "Horst, come on stage", soll Paul McCartney in der Silvesternacht 1962 am Ende des letzten Auftritts der Liverpooler gerufen haben. Und Horst kam und sang. Bei aller Geschichtsklitterung, die bei den Star-Club-Senioren begnadet gut betrieben wird: Diese Anekdote stimmt. Auf dem Beatles-Album "Rockin' at the Star-Club 1962" ist Faschers Eingreifen zu hören. Der Song "Halleluja, I love her so" klingt irgendwie anders. Es werde gerne unheimlich viel hinzuerfunden, sagt der bärtige Ex-Boxer Fascher und signiert nebenbei sein neues Buch über einst, in dem er ein weiteres Mal zum großen Rundumschlag ausholt und natürlich die einzig wahre Wahrheit präsentiert. "You were always there", schreibt er nach einer kleinen Nachhilfe in Englisch per Edding auf sein Werk. Die Adressatin sitzt einen Tisch weiter: Rosie Sheridan, Ex-Frau des legendären Tony Sheridan, für den die Beatles noch Begleitband waren.

Völlig unstrittig sind lediglich die Eckdaten. Die Beatles kennen den Kiez schon fast zwei Jahre, als der Star-Club im April 1962 öffnet. Sieben Jahre später ist Schluss, Silvester 1969 verklingt der letzte Akkord in Faschers Schuppen. Da stehen die Beatles ganz woanders kurz vor der offiziellen Auflösung. Die frühen Star-Club-Jahre, da sind sich alle einig, gerieten zu den besten. Der gesellschaftliche wie musikalische Pioniergeist gärte anfangs am intensivsten. "Wir waren die Ersten, die sich mit den einstigen Feinden aus England an einen Tisch gesetzt und Bier getrunken haben", ruft einer in die Runde. "Wir haben wieder alles glatt geschliffen." Ja, da muss Fascher zustimmen und erzählen, wie er und John Lennon sich gegenseitig mit ihren Vergangenheiten neckten. "You fucking Nazi bastard!", provozierte der Beatle. Mit "You fucking Limey!" will Fascher zurückgeschossen haben, einem Spottwort für britische Seeleute.

Nette Geschichtchen, aber Fascher ist kein typischer Stammtischgänger. Er ist wohl die populärste noch lebende Star-Club-Gestalt, der Charme dieses Beisammenseins nährt sich allerdings aus anderen Quellen. Denn hier wird nicht bloß von damals erzählt geschweige denn mit dem Damals Kasse gemacht. Die letzten Strahlen des Ruhmes überlässt man gerne dem früheren Boss. Die Anziehungskraft der Runde hat vielmehr mit dem geistigen Band zu tun, das vor einem halben Jahrhundert aus den gleichen Fasern geknüpft wurde und einfach nicht reißen konnte. Pico und Klaus, Ruth und Rosie, Marlies und Kerze, Gerd und Ingrid sind einander Familie, die engste, die man sich vorstellen kann. Sie erlebten den gleichen Aufbruch, stießen im selben Moment die Fenster auf, um den elenden Mief ihrer Elternhäuser loszuwerden, alle strebten sie nach Freiheit und Selbstbestimmung. Sie waren nicht gefügige Komparsen irgendeiner Epoche, sondern rebellische Hauptdarsteller einer eruptiven Zeit. So sehr es in den Augen der Beteiligten glänzt, wenn sie an das Hamburger Kiezleben der 60er denken, so brüchig wird deren Stimme immer noch, sobald sie von Tristesse und Unterdrückung der heimischen Bohnerwachsspießigkeit erzählen.

Symptomatisch dafür ist die Geschichte von Ruth, der am distinguiertesten aussehenden Dame des Stammtischs. Ihre Haut ist die straffste, die Haare sind die blondesten, und man kann erahnen, warum sich Paul McCartney damals in sie verliebte. Lügen waren Anfang der 60er allgegenwärtig, und so konnte auch Ruth, Tochter eines Pfarrers aus Blankenese, nur heimlich im Star-Club als Barfrau arbeiten, für 60 Mark am Abend. Bis ihr Zweitjob aufflog, weil sie zu spät zu ihrem Dienst in den Bücherhallen auftauchte. Nach den Auftritten der Halbstarken aus England zog sie mit McCartney regelmäßig bis zum nächsten Mittag über den Kiez. Nein, sagt Ruth, geschlafen hätten sie nie miteinander, da sei sie dann doch zu sehr von ihren Eltern geprägt gewesen. Geknutscht hätten sie aber und über mehrere Monate eine richtige Beziehung geführt. Heimlich, versteht sich. Und als er ging, für immer, und weltberühmt wurde, hat es nicht wehgetan. "Man war abgelenkt", sagt sie. "Im Star-Club standen ja jeden Monat 20 neue Musiker auf der Bühne." Ruth fand später eine andere Liebe, den Trommler von James Last.

Der Star-Club war energetische Aufladestation Gleichgesinnter; er war Flüchtlingslager für die entnervten Söhne und Töchter; für die, die jeden Abend ganz nah an der Bühne standen und die Griffe der Gitarristen abschauten, war er Musikschule; und er war Anbahnungsbetrieb, Familien wurden gegründet nach durchtanzter Nacht, Kinder gezeugt, Ehen geschlossen; aber vor allem war der Star-Club Werteschmiede. "Wir haben ganz früh Kameradschaft gelernt, Solidarität und Respekt", fasst Klaus Cordt zusammen, der heute in Südschweden lebt und für den Stammtisch fast jeden Monat mit der Fähre nach Deutschland kommt. Ihn hat das authentische, raue Leben zwischen Rock 'n' Roll und Rotlicht weit mehr geprägt als die eigenen Eltern. Trotz all des Ärgers, den sie daheim gehabt hätten, ergänzt Marlies Haberland mit tiefstem Seufzer, "es war einfach so unglaublich schön." Lothar Geißler ist auch so einer, den der Kiez erzogen hat. Wenige Wochen vor dem Mauerbau machte er rüber in den Westen, ganz allein als 19-jähriger Elektriker, und er kam genau richtig, um die ersten Momente des Star-Clubs mitzuerleben. "Eine völlig andere Welt", beschreibt er. "Ich musste mir selber klare Grenzen setzen, sonst wäre ich möglicherweise ins Milieu abgerutscht." Später erzählt Geißler, dass er mal 14 Jahre ausgesetzt habe mit dem Rock 'n' Roll. In der Zeit sei er verheiratet gewesen. Und dann meint er: "Nach der Scheidung bin ich jetzt endlich wieder im alten Leben."

Dass dieses nostalgische Schauspiel in einer unscheinbaren Schankwirtschaft inmitten junger Pöseldorfer Szenelokale über die Bühne geht und nicht in einer nach Klostein riechenden Reeperbahnspelunke aus dem Aktionsradius der "Fab Four", ist kein Zufall. Der blutrot getünchte Laden zieht seinen Charme aus dem einzigartigen Personal und dem eigentümlichen Interieur. Die junge Queen Elizabeth lächelt frisch gekrönt von der Wand, Astrid Kirchherrs legendäre Schwarz-Weiß-Fotografien von den Beatles auf dem Heiligengeistfeld erinnern an die ungestüme Zeit, und zwischen den Toiletten hat Gibson Kemp auf dem schwarzen Klavier allerlei antiquarische Platten und Bücher inszeniert. Die eigentliche Attraktion aber ist Kemp selbst. Der heutige Geschäftsführer und Koch war eine große Nummer zu den Hoch-Zeiten des ins Hamburger Pflaster einsickernden Beats. Das halbe Leben hielt der Liverpooler seinen Bizeps als Trommler in Form, ersetzte Ringo Starr bei Rory Storm and the Hurricanes nach dessen Wechsel zu den Beatles. Aber Kemp, der sich nach seiner aktiven Drummerlaufbahn in der Plattenindustrie verdingte, ist keiner, der die Star-Club-Stars von einst ausschließlich in Ehren hält und in präseniler Verklärtheit Rückschau betreibt. Wenn Jerry Lee Lewis ein Kotzbrocken gewesen ist, Chuck Berry ein Irrer und Paul McCartney selbstverliebt wirkte, dann sagt er das. Und zwar gerne. Unmissverständlich unterstützt durch ein brillantes Repertoire angelsächsischer Grimassenakrobatik.

Zu Gibson gesellt sich Tina, seine Frau, die zweite ständige Attraktion, Mitglied der reanimierten Les Humphries Singers. Meist schmeißt sie die Bar. Die Dritte im Bunde ist Astrid Kirchherr, die als Freundin des damaligen fünften Bandmitglieds Stuart Sutcliffe von allen wohl am dichtesten an den Beatles dran war. Ab und an kellnert sie im Kemp's, hilft ihrem Ex-Mann Gibson an betriebsamen Abenden aus. So wie an jedem ersten Freitag im Monat. Doch Kirchherr hält sich dezent zurück. Sie könnte so einiges richtigstellen, was in der Star-Club-Runde zuweilen grotesk ausfantasiert wird. Und wenn einer plötzlich die Stimme anhebt, um sein Insiderwissen über die wahre Todesursache von Sutcliffe zum Besten zu geben - "kein Hirntumor, sondern Kiezmord!" -, dann trollt sich die Leibfotografin der Beatles ganz schnell zu Kemp in die winzige Küche und schnippelt Gemüse für dessen Curry-Gerichte.

50 Jahre nach ihrem ersten Konzert im Indra sind John, Paul, George und Ringo wieder omnipräsent in der Hansestadt. Den Touristen gab man ein Beatles-Museum. Den Reeperbahnanrainern sammelte man einen Beatles-Platz inklusive unromantischer Edelstahlskulpturen zusammen. Und ab und zu erblickt man in den Straßen einen wummernden Beatles-Bus, der die alten Wirkungsstätten abfährt. Nach vielen Jahren der Vergessenheit hat sich die größte Band aller Zeiten zu einem - wenn auch klitzekleinen - Hamburger Wirtschaftsfaktor etabliert. Der authentische Geist der Zeit aber ist nicht vor den Stripläden auf dem Beatles-Platz zu spüren, sondern an den Biertischen der Star-Club-Senioren.

Dort zelebriert man eine scheinbar zeitlose Unbeschwertheit. Die Kinder sind groß, die Renten sicher. Und die meisten haben ihre Passionen, Rituale und Überzeugungen von den 60ern ins dritte Jahrtausend gerettet. Man bezeichnet sich liebevoll als Arschloch, manche sehen es weiterhin nicht so eng mit der Ehe, einige mieten sich kleine Busse, um zu Rock-'n'-Roll-Konzerten zu fahren, einer versucht, Kinderchöre Beatles-Songs singen zu lassen, andere organisieren Oldie-Abende für gute Zwecke, und nie hätten sie geglaubt, dass ihre Grünen mal mit den Schwarzen koalieren würden. Aber was soll man machen. Zum Schlage eines Gerhard Schröders oder Joschka Fischers, die ihr Heil nach der politischen Erfüllung in der Wirtschaft und ihre Erholung im Mediterranen suchten, gehören sie eben nicht. Sie sind der Teil der Bewegung, der sich treu blieb und so etwas wie ein unangepasstes Bürgertum schuf. Ein Bürgertum, dessen harte Hymnen bis heute nichts weiter als C-Dur, G-Dur, F-Dur brauchen und das gerade deswegen niemals mit der gezuckerten volkstümlichen Musik Gleichaltriger sympathisiert hat.

"Wir gehören alle einer Generation an, die nicht wirklich erwachsen wird und sich ihre Unvernunft erhalten hat", sagt Marlies Haberland. "Das Pflegepersonal im Altenheim wird es nicht leicht mit uns haben." Und als ob sie es trotzig ihren Eltern hinterherruft: Aus allen sei etwas geworden!