Eine Glosse von Sven Kummereincke

Sie sind klein, dünn, blass und tragen hässliche Brillen mit dicken Gläsern. Sie sind unsportlich und chronisch erfolglos beim anderen Geschlecht. Und Freunde haben sie natürlich auch keine, es sei denn, die haben das Gleiche geschafft wie sie: ein 1,0-Abitur. So weit das Klischee dieser Streberkaste, das wir - die Dümmeren und Fauleren - so gerne pflegen. Damit wir uns doch irgendwie überlegen fühlen dürfen angesichts unserer erschütternden Chancenlosigkeit auf jedwedem geistigen Gebiet.

Spätestens in Erinnerung an meine Schulzeit aber zerschellt das hämische Gedankengebäude an der Realität, die in diesem Fall den Namen Thorsten trägt. Er war schon einer von denen, die einen an der Gerechtigkeit bei der Verteilung der Gehirne stark zweifeln lassen. Mathe und Naturwissenschaften, Deutsch und Fremdsprachen, Musik und Kunst: alles Einsen. Von Klasse 5 bis Klasse 13. Sport war nur ein kleiner Trost: Schlechter als 3 war er da auch nie.

Thorsten erfüllte also alle Voraussetzungen zur sozialen Vereinsamung - doch das Gegenteil war der Fall. Weil er sich, vom IQ abgesehen, von uns anderen Chaoten nicht unterschied. Und wegen Episoden wie dieser: Ich brauchte dringend eine Drei in einer Lateinarbeit (um keine Fünf im Zeugnis zu bekommen). Thorsten lieferte mir, nachdem er mit seiner Übersetzung fertig war, eine Version mit exakt so vielen Fehlern, dass es für die Drei reichte (eine Eins hätte mir sowieso niemand geglaubt).

Neidisch war jedenfalls niemand, als er sein 1,0-Abitur vollbrachte. Eher stolz. Klein und blass war er übrigens auch nicht.