Gemeinsam Jubeln ist am schönsten. Der Hamburger Soziologe Markus Friederici erklärt das Massenphänomen Public Viewing.

Hamburg. Es muss ein geheimnisvoller Sog sein. Anders ist nicht zu erklären, warum 45.000 Menschen an einem Sonnabendnachmittag in skurrilem Aufzug aufs Heiligengeistfeld pilgern , um sich bei glühender Hitze ein Fußballspiel anzusehen. Vor allem nicht, wenn die Alternative ein hochauflösender Fernseher im schattigen Wohnzimmer ist. Woher kommt er also, der Erfolg des gemeinschaftlichen Fernsehens in Hamburg und anderen deutschen Großstädten?

Und warum funktioniert er beim Fußball - und nicht bei der Tour de France? Der Hamburger Sportsoziologe Markus Friederici von der Universität Hamburg sagt: Wichtig sei, dass die Sportart in Regeln und Abläufen so konzipiert ist, dass man permanent und spontan Emotionen aufbauen kann, die sich durch das Public Viewing noch verstärken. "Der Fußball bietet da ideale Voraussetzungen, ständig kann etwas Außergewöhnliches passieren - ein Tor, eine spektakuläre Aktion, ein Platzverweis, eine emotionale Entgleisung. Und diese Emotionen sind es, die der homo ludens sucht, und die sich in der Gruppe noch verstärken können."

Die Beobachtung einer vierstündigen Radfahr-Etappe böte demnach nicht das Potenzial, wildfremde Menschen in einem Jubelknäuel zusammenzutreiben. Beim Fanfest in Hamburg spielen sich derartige Szenen aber bei jedem Deutschlandspiel ab. Fußballfans fallen sich um den Hals, küssen und liebkosen sich. Ein besonderer Typ muss man dafür aber nicht sein, meint Markus Friederici: "In seinem Buch 'Quest for Excitement' beschreibt der Sportsoziologe Eric Dunning das menschliche Bedürfnis nach Aufregung und Abwechslung. Und auch, wie der Sport dieses Bedürfnis - selbst als Zuschauer - befriedigen kann." Deshalb ließe sich über den typischen "Public Viewer" nur sagen, er bringe eine Affinität zum Sport mit. "Und er ist auf der Suche nach Aufregung." Menschen mit wenig Ausschlägen auf der Gefühlsskala mieden Zuschaueransammlungen deshalb eher.

Wer sich allerdings in schwarz-rot-goldene Kluft wirft und unter Menschen geht, möchte auch über seinen Dresscode etwas transportieren. "Verkleidungen sind in zweierlei Hinsicht von Bedeutung", sagt Marcus Friederici. "Zum einen tragen sie dazu bei, sich vom Alltagsleben abzugrenzen: Meine Arbeit mag trist und grau sein, aber heute kleide ich mich bunt und begebe mich in eine andere Welt, die von Emotionen, Dynamik und Erlebnis gekennzeichnet ist." Zum anderen mache man sich damit gleich, trage das, was viele andere auch tragen. Friederici: "So entsteht ein Gefühl der Gemeinschaft und der Nähe - man gehört dazu, ist Teil des Ganzen."

Als Folge werden positive Emotionen und Stimmungen erzeugt, die im Gedächtnis bleiben, so der Soziologe. Deshalb sei es für eine Stadt wie Hamburg - als Tor zur Welt - wichtig, Veranstaltungen anzubieten, die das Entstehen von solchen Emotionen und den Kontakt zwischen den Menschen - auch gerade aus unterschiedlichen Kulturkreisen - fördern. "Viele Menschen hatten vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 ein Bild von Deutschland", sagt der 41-Jährige. "Nach Typisierungen gefragt, kamen oft die gleichen Stereotype. Das hat sich nach der WM geändert."

Das Mittel der organisierten Volksunterhaltung ist dabei nicht neu. Wie die "Süddeutsche Zeitung" in ihrer Wochenendausgabe sieht auch Friederici beim Public Viewing Parallelen zu frühzeitlichem Massenjubel: "Soziologen wie etwa Norbert Elias bezeichnen den Sport als zivilisierte Antwort auf kriegerische Auseinandersetzungen. Und in der Tat sind im Sport Elemente enthalten, die uns an den Krieg erinnern: Taktik, Auseinandersetzung, Strategien, (Wett-)Kampf. Die Protagonisten auf dem Feld erfüllen dabei eine Stellvertreterfunktion: Nicht wir treten in den Kampf, sondern unsere Delegierten."

Und es gibt sogar noch einen philosophischen Ansatz: Der Mensch im Allgemeinen sucht nach Ausgleich und Abwechslung - oder wie es Aristoteles formuliert hat, nach Katharsis (Selbstreinigung), sagt Friederici. Der Sport biete das. Demnach hat der Public-Viewing-Besuch einen kathartischen Effekt. Emotionen könnten gezeigt und ausgelebt werden, und die Gemeinschaft trage dazu bei, dass sich die Emotionen potenzieren - in die eine wie in die andere Richtung.