Die Meeresschildkröten im Golf von Mexiko sind gefährdet. Der Verlust einer Generation könnte die Art ausrotten.

Auf Thelma ist Verlass. Pünktlich zur Nistsaison treibt sie sich seit April vor den Stränden von Padre Island herum, einer langgezogenen, schmalen Insel vor der texanischen Küste. Bei den Mitarbeitern des Nationalparks Padre Island gilt die Meeresschildkröte als Veteranin. Am 6. Mai hat sie dort ein Nest mit 92 Eiern angelegt, am 24. Mai dann ein weiteres Nest. "Vielleicht gräbt sie noch ein drittes", sagt die Biologin Donna Shaver, "das hat sie in früheren Jahren auch so gemacht." Thelma trägt auf ihrem Panzer einen Satellitensender, der Donna Shaver verrät, wo sie gerade ist. Jeder kann ihre Position aktuell mitverfolgen: auf www.seaturtle.org , unter "tracking". Thelma hat die Nummer 47529, ihre Senderkennung: YYA504.

Aber in diesem Sommer wird sich für sie alles ändern. Seit der Explosion der Bohrplattform "Deepwater Horizon" am 20. April strömen täglich geschätzte 10 900 Tonnen Rohöl aus dem unterseeischen Bohrloch, das die britische BP nicht hat stopfen können. Der Golf von Mexiko ist verseucht und Thelma auf dem Weg dorthin, ins Öl.

Auf der Wasseroberfläche erstarrt das Öl zu dicken Lachen und Placken. Die großzügige Verteilung von Dispersions-Chemikalien, mit denen BP die dahintreibenden Ölteppiche auflösen wollte, hat ökologisch eine sekundäre Krise ausgelöst. Fische, Plankton, Vögel, Korallen sind der giftigen Brühe ausgesetzt: durch Berührung, Schlucken, beim Filtrieren. Wenn Meeresschildkröten zum Atmen auftauchen, inhalieren sie die giftigen Gase, die auch für Menschen gefährlich sind.

Am Sea Turtle Restoration Project, das den Schutz der Meeresschildkröten im Golf von Mexiko koordiniert, herrscht Alarmstimmung. "Das Desaster fällt für fünf der sechs Meeresschildkrötenarten dieser Gewässer mitten in die Periode der Eiablage und der Wanderung", sagt der Projektleiter Dr. Chris Pincetich. "Die Fortpflanzung einer ganzen Generation ist bedroht." Alle Arten sind mindestens gefährdet. Eine überzählige Generation, die geopfert werden könnte, hat die Natur nicht vorrätig.

Donna Shaver betreut und erforscht die Meeresschildkröten im Golf, seit sie 1984 ihren ersten Abschluss in Biologie machte. In diesem Sommer wird sich erweisen, ob die Arbeit von 30 Jahren umsonst war.

Die Atlantik-Bastardschildkröte ist die am stärksten bedrohte Art

Thelma ist eine Atlantik-Bastardschildkröte (in den USA nach ihrem Entdecker Richard Kemp "Kemp's ridley" genannt ). Es ist die kleinste, seltenste und am stärksten bedrohte Meeresschildkrötenart der Welt. Erwachsene Tiere werden nur 58 bis 70 Zentimeter lang und wiegen nicht mehr als 45 Pfund. Neben den attraktiv farbigen Unechten Karettschildkröten wirken sie wie arme Verwandte: unauffällig grau und olivgrün.

Aber ihre Geschichte klingt wie eine denkwürdige Parabel - gerade jetzt.

Atlantik-Bastardschildkröten sind die Einzigen, die ihr gesamtes Leben im Golf von Mexiko verbringen. Im 20. Jahrhundert legten sie ihre Eier fast nur noch an einem kleinen Strand des mexikanischen Bundesstaates Tamaulinas. Dort wurden in den 1960er-Jahren 60 000 Weibchen gesichtet, im benachbarten Texas nur einige wenige.

1985 stand die Art mit rund 1000 Exemplaren kurz vor dem Aussterben. Die Gelege wurden ausgeplündert, viele Jungtiere starben in Fischernetzen.

Paradoxerweise brachte die bis dahin größte Ölpest der Welt den Wendepunkt. Nach der Explosion einer Bohrplattform im Juni 1979 strömten aus der mexikanischen Ölquelle Ixtoc I, 3000 Meter unter dem Meeresboden, täglich geschätzte 1,3 Millionen Tonnen Rohöl über neun Monate lang in den Golf von Mexiko. Die Betreiberfirma der Bohrplattform, Sedeco, ging in der Betreiberfirma Transocean auf. Transocean ist auch Betreiber von "Deepwater Horizon" gewesen.

Schon kurz vor dem Unfall 1979 starteten US-Behörden ein Zehnjahresprojekt zur Rettung der Atlantik-Bastardschildkröte. Texas wollte auf dem geschützten Padre Island eine zweite große Nestkolonie begründen. Da Meeresschildkröten auf den Strand "geprägt" sind, an dem sie schlüpfen, war das Umprägen ein aufwendiges Verfahren: Schildkröteneier wurden aus Mexiko nach Texas geflogen und dort künstlich ausgebrütet; die Jungtiere schlüpften auf Padre Island, wurden dann aber in Schildkrötenfarmen aufgezogen, bis sie ein Jahr alt waren. Bei ihrer Entlassung in den Golf hatten sie eine Größe erreicht, die sie vor vielen Fressfeinden schützte.

Auch Thelma verließ Mexiko 1986 in ihrem Ei, wurde ausgebrütet und auf Padre Island "geprägt". Sie war 1999 die 15. Bastardschildkröte, die wieder in Texas nistete. 2005 waren es bereits 195. Thelma ist der lebende Beweis, dass das Ansiedlungssprogramm auf Padre Island nach Jahren schließlich doch gelungen ist. In der Nistsaison zwischen April und Ende Juni sind Hunderte freiwilliger Helfer auf der Insel, um die Weibchen zu identifizieren und die Gelege aufzuspüren - zum Teil mit Schildkröten-Suchhunden.

604 Meeresschildkröten sind von der Ölpest betroffen, 387 bereits tot

In der Zentrale des Sea Turtle Restoration Projects laufen nach dem "Deepwater Horizon"-Unglück Zustandsberichte aus den US-Bundesstaaten Louisiana, Mississippi und Texas und Florida zusammen. Seit dem 4. Mai stellt das Projekt regelmäßig Updates ins Internet. Dieses "Journal" liest sich wie ein Krimi - ein deprimierender Krimi. Am 5. Mai wurden 35 tot gestrandete Meeresschildkröten gezählt. Am 12. Mai, nach dem Einsatz der Dispersionsmittel, stieg die Zahl auf 60. Am 18. Mai auf 156. Am 21. Mai auf 186. Auch nach dem von der US-Umweltbehörde EPA verordneten Stopp der Dispersionsmittel stieg die Zahl weiter an. Das letzte Update vom Montag nennt 604 von der Katastrophe betroffene Meeresschildkröten, darunter viele Karett- und Atlantik-Bastardschildkröten. 117 von ihnen waren verölt oder verletzt. 387 waren verendet. Und das sind nur die gestrandeten. Wie viele im Meer versunken sind, weiß niemand.

Anfang Mai glaubten manche noch an "normale" saisonale Opfer der Krabbenfischerei. Nach Schätzungen der US-Ozeanografiebehörde NOAA kommen jährlich 25 000 Meeresschildkröten im Golf von Mexiko und im Südatlantik durch Fischtrawler ums Leben. Sie werden von den Netzen unter Wasser gezogen und ertrinken, schlucken Haken oder Metallteile, geraten in Schiffsschrauben. "Rund 100 Opfer im Mai sind üblich", sagte der Veterinär Dr. Michael Ziccardi, der die Auffangstation für verölte Tiere in Louisiana leitet.

Aber die Zahlen stiegen zu schnell. Die Forscher der Meeresinstitute hatten einen Verdacht: Offenbar benutzten die Trawler nicht die vorgeschrieben offenen TED-Netze (Turtle Excluder Devices), aus denen sich gefangene Schildkröten leichter befreien können. Als sich Anfang Mai die ersten Fischfangverbote nach dem Ölunfall abzeichneten, begann ein wilder Wettlauf auf dem Golf: Die Fischer wollten vor der Zwangspause noch schnell möglichst große Fänge einfahren.

Auch nach den Fangverboten ist die Zahl der toten Schildkröten kontinuierlich gestiegen. Es klingt paradox: In der größten Ölpest des Golfs haben weder Wissenschaftler noch Veterinäre, noch die US-Naturschutzbehörde, noch die NOAA Erklärungen für das Schildkrötensterben. Zwar kriechen immer wieder verölte Schildkröten an die Strände. Viele von ihnen leben, können in den Auffangstationen gereinigt und wieder aufgepäppelt werden.

Während das Massensterben anderer betroffener Tierarten - Meeresvögel, Fischen, Krabben, auch Delfine - ganz klar durch die Ölpest erklärbar ist, bleibt es bei den Meeresschildkröten ein Mysterium. Sichtbar verölt sind nur zehn bis zwölf Prozent.

Dr. Ziccardi in Louisiana hat bis Mitte Juni mindestens 75 Schildkröten obduziert und fand weder innere noch äußere Anzeichen von Öl. Dr. Pincetich vom Sea Turtle Restoration Project fordert, dass es mehr Obduktionen geben müsse, um Klarheit zu erhalten. Bisher bestätigten sich in Voll- und Teilobduktionen immer wieder zwei Todesursachen: "erzwungenes Untertauchen" (beispielweise durch Netze) und "akute Vergiftungen". 60 Prozent der Fälle aber bleiben ungeklärt.

Am liebsten würden Tierfreunde und Umweltschützer der gesamten Region mit dem Finger auf BP zeigen. Sie sind so wütend wie der Präsident, der BP zu drastischen Entschädigungszahlungen zwingen und "ein paar Ärsche zum Reintreten sucht", so das Magazin "The Economist".

Aber so einfach ist es nicht. Die Tragödie im Golf von Mexiko ist leise. Sie hat etwas Unheimliches. Viele der noch lebenden Schildkröten schleppten sich mit letzter Kraft auf Strände, an denen sie nie zuvor gesichtet wurden. Sie wirkten desorientiert und erschöpft. Wovon? Wovor sind sie geflohen? Vor den Chemikalienteppichen? Haben die Kohlenwasserstoffe im Öl ihren Stoffwechsel verändert? Hat der Petroleumgestank ihr feines Geruchssystem geschädigt, das bei ihrer Orientierung in den Meeresströmungen eine Schlüsselrolle spielt?

Der Golf von Mexiko ist eines der artenreichsten Gewässer der Welt. Welche Stressauslöser diese Arten wahrnehmen und weitergeben, stellt Wissenschaftler immer noch vor Rätsel. Ein Ölunfall dieses Ausmaßes erzeugt großen ökologischen Stress. Kann es bei Meeresschildkröten eine Art Paniksyndrom geben?

Die Öljagd rechtfertigt vieles - eine Schildkröte ist an der Börse nichts wert

Bis jetzt blieb die Küste vor Padre Island von den Ölteppichen verschont. Die Überwachungskarten der Wetter- und Ozeanografiebehörde NOAA zeigen allerdings, dass die Ölschwaden auch nach Nordwesten ziehen, auf die Insel zu. Thelmas Sender verrät nicht, ob sie mit Öl oder der giftigen Ölemulsion in Berührung gekommen ist. Die Signale zeigen nur, dass sie längere Fressausflüge gemacht hat.

Wenn Thelma in wenigen Tagen ins offene Meer zurückkehrt, wird sie eine veränderte Welt vorfinden. Ihre Lieblingsspeise, Krabben, wird in den nächsten Jahres Ölrückstände enthalten, ebenso wie die Wasserpflanzen, Tang, Würmer, Meeresschnecken und Austern, die sie frisst. Die Rückstände können sich in ihren eigenen Organen anlagern, sich auch auf ihre Fortpflanzung auswirken.

Thelma weiß nichts von dem Grundkonflikt, der sich im Golf von Mexiko spiegelt wie in einem Brennglas. Die Jagd auf den begehrten Rohstoff Öl rechtfertigt alles. Öl und Arbeitsplätze leiden nicht, wenn eine Art ausstirbt. Thelma hat keinen Börsenwert.

Thelma hatte 24 Jahre lang Zeit, ein Erfolgssymbol zu werden. 24 Jahre sind für eine Atlantik-Bastardschildkröte kein Alter. Vielleicht wird ihr nur diese Zeitspanne zwischen zwei Ölkatastrophen bleiben.