Ägypten hat einen Gewinner: den Moslembruder Mohamed Mursi. Der Islamist und Kritiker des früheren Mubarak-Systems ist Sieger der ersten freien Präsidenten-Wahl. Ägypten aber steht gerade davor, viel zu verlieren: die Errungenschaften des Aufstands gegen das alte Regime, Stabilität, Freiheit. Auch jetzt, nach der Wahl Mursis zum Präsidenten. Oder gerade jetzt.

Viele Ägypter haben sich hinter Mursi gestellt, weil sie in ihm den Mann sehen, der das Land endgültig vom alten System des gestürzten Machthabers Husni Mubarak befreien könne. Mursis Gegenkandidat stand für dieses System: Ahmed Schafik, der frühere Luftwaffenchef war der letzte Regierungschef unter dem gestürzten Präsidenten. Und doch ist fraglich, ob Mursi als Präsident Ägypten Stabilität bringen wird. Angeblich will er ein Bündnis aller Couleur schmieden, um gegen ein Wiedererstarken der alten Machteliten zu kämpfen. Doch weder bei den liberalen und säkularen Kräften, noch bei den Christen im Land und auch bei einigen anderen Islamisten genießen die Muslimbrüder Vertrauen. Ganz zu schweigen von den Eliten des alten Mubarak-Regimes.

Die Moslembrüder haben bisher nicht versucht, das alte System aus Manipulation und autoritärem Herrschaftsanspruch abzuschaffen. Sie wollten es nur selbst beherrschen. Im Parlament wollten die Brüder als Vertreter aller Ägypter auftreten, doch färbten sie alle Debatten sofort in islamistische Töne.

Die Moslembrüder selbst sind stark hierarchisch geprägt, und Mursi gilt als Parteisoldat. Und Soldaten sind im Moment die große Gefahr für Ägypten: Der Militärrat löste unlängst das Parlament auf, die Armee sicherte sich das Recht, Zivilisten zu verhaften. Die Junta kann durch die "Übergangsverfassung" sogar Gesetze erlassen.

Ägypten braucht einen Präsidenten, der sich von politischen und religiösen Gruppen emanzipiert. Einen Integrator, der für den Kampf gegen die alte und wieder erstarkte Militärjunta steht. Doch Mursi war selbst bei den Muslimbrüdern nur zweite Wahl. Im Wahlkampf um das Präsidentenamt wurde er als "Ersatzreifen" verspottet. Nun ist er mächtigster Mann im Land. Und doch machtlos.