Zehn Jahre nach PISA macht Bildungspolitik Fortschritte - aber es reicht noch nicht

Man stelle sich Deutschland vor wie die wohl berühmteste Figur der deutschen Literaturgeschichte: Wie Faust, der in einem "engen gotischen Zimmer (...) unruhig auf seinem Sessel am Pulte" sitzt, wie es Johann Wolfgang von Goethe 1808 in der ersten Szene beschreibt, und die drei Worte spricht, in denen sich die Verzweiflung vergeudeter Lebensmühen kristallisiert: "Habe nun, ach!"

Ähnlich wie der Gelehrte Faust, der in einer ganzen Reihe an Disziplinen wie Juristerei und Medizin akademische Grade erworben hat, aber trotzdem nur weiß, dass er im Grunde gar nichts weiß, ist Deutschland an einem rastlosen Erschöpfungszustand angelangt: Es hat die Vordenker der Aufklärung hervorgebracht, große Literaten, Philosophen und Erfinder und so einen Nimbus geschaffen, der bis heute weit über die eigenen Grenzen hinausreicht. Doch nach innen kämpften wir mit einem Bildungssystem, das dem großen Erbe kaum gerecht zu werden scheint. Der Pisa-Schock im Jahr 2001 hat es am eindrucksvollsten belegt: das Land der Dichter und Denker - abgehängt im internationalen Vergleich.

Seitdem hat sich einiges getan, und aus der Verzweiflung der Post-PISA-Zeit ist Anstrengung geworden, an den Defiziten zu arbeiten. Der am Freitag veröffentlichte Bericht "Bildung in Deutschland 2012" zeigt: Die Zahl der Abiturienten wächst, die der Schulabbrecher geht zurück, das gesamte System wird flexibler und durchlässiger. In Hamburg haben in diesem Jahr mehr Schüler als zuvor eine sehr gute Abi-Note erreicht.

Doch es gibt auch eine andere Seite: Die Wissenschaftler diagnostizierten ein hohes Sozialgefälle. Jeder fünfte Jugendliche kann auch zehn Jahre nach PISA nicht richtig lesen und Texte verstehen. Sie sind die "Bildungsverlierer", wie es in dem Bericht heißt, die, die keine Lehrstelle finden und kaum Chancen auf eine ertragreiche Zukunft haben. Oft stammen sie aus einer Zuwandererfamilie.

Soziologen warnen auch deshalb vor einer immer weiter auseinanderklaffenden gesellschaftlichen Schere, weil immer mehr Eltern ihre Kinder in Privatschulen schicken. Allein die Zahl der privaten Grundschulen hat in den vergangenen Jahren um 150 Prozent zugenommen - doch auch im Sekundarbereich werden es mehr. Die Zahl der privaten Unis hat sich ebenfalls verdoppelt. Das wohlhabende Bildungsbürgertum beginnt damit, sich abzugrenzen, während der soziale Rand auf der Strecke bleibt. Die Kultusminister müssen sich anstrengen, damit diese Lücke nicht größer wird.

Bei dem Schritt, der in der vergangenen Dekade gemacht wurde, darf die soziale Schere nicht zum neuen großen Problem werden, seit PISA verdaut ist. Dreh- und Angelpunkt, das betonen auch Experten, ist dabei die frühkindliche Bildung in Kindergarten und Grundschule. Doch im internationalen Vergleich hinkt Deutschland hier hinterher: Die öffentlichen Ausgaben pro Jahr pro Schüler sind in der Primarstufe im Vergleich mit den anderen Industriestaaten unterdurchschnittlich. Das muss sich ändern.

Vor allem Ganztagsangebote sind wichtig. Dass in Hamburg bis 2013 fast alle Grundschulen zu Ganztagsgrundschulen werden, ist gut und richtig. In den frühen Jahren können Sprach- und Entwicklungsdefizite behoben werden. "Was Hänschen nicht lernt ...", ist hier mehr als eine Binsenweisheit. Jedes dritte Kind wächst in einer sozialen Risikolage auf und ist damit besonders gefährdet. Dieser Gruppe muss so früh wie möglich mit Bildungsangeboten geholfen werden - am besten schon in der Kita. Kritiker betonen dabei zu Recht, dass das Betreuungsgeld hier kontraproduktiv wirken kann.

Trotz guter Fortschritte ist also noch ein weiter Weg zu gehen - vor allem dann, wenn aus der Bundesrepublik weiterhin die Bildungsrepublik Deutschland werden soll.