Ein Glücksfall für das Abendblatt: In der Serie wurden bisher 180 Begriffe von Carl Groth veröffentlicht

Hamburg. Mit Messersteck fing alles an. "Messersteck ist ein wohl längst vergessenes Spiel, das man auf dem Granduntergrund früherer Hinterhöfe zu zweit gut spielen konnte. Mit einem Taschenmesser oder besser einer glatt geschliffenen Feile warf (donnerte) man das spitze Gerät in den Grandboden", schrieb Carl Groth vor drei Jahren in einem Brief an das Hamburger Abendblatt. Und weiter: "Drei Spielarten gab es: Wettlauf, Länderspiel und Eierklauen. Die Regeln sind nicht einfach zu beschreiben; aber wenn das Messer beim Wurf umfiel, war der Gegenspieler an der Reihe, sein Spiel zu spielen."

Jetzt steht Carl Groth, 82, in seinem Wohnzimmer im Augustinum. In der Seniorenresidenz am Elbufer hat der quicklebendige Hamburger ein hübsches Appartement mit seitlichem Blick auf den Fluss. Vor dem Fenster kreischen ein paar Krähen. Carl Groth ist von seinem Stuhl aufgestanden und erklärt, wild gestikulierend mit Armen und Beinen, die Regeln dieses längst vergessenen Kinderspiels. Es stammt aus einer Zeit, in der es noch völlig unproblematisch war, wenn die Schüler alle ein Taschenmesser mit in die Schule brachten.

"Wir haben Messersteck auch auf dem Hinterhof in Winterhude gespielt", sagt Carl Groth, den seine Freunde Kuddel nennen. Im Mühlenkamp war das, zwischen den Hausnummern 21 und 23. Hier ist er, 1930 in St. Georg geboren, aufgewachsen. Sein Vater war beim Finanzamt in der Steinstraße, und wenn er gefragt wurde, wo er arbeitete, hat er immer geantwortet: "Im Haus der modernen Christenverfolgung." Seine Mutter war gelernte Schneiderin und Hausfrau. Und seine Großmutter diktierte an der Waschbalje dem Hausknecht schöne Dramen.

Als Carl Groth neun Jahre alt war, brach der Krieg los. Er kann sich noch an die Bombennächte erinnern. "Manchmal sind wir zweimal in der Nacht mit dem Koffer in der Hand in den Bunker gelaufen." Zur Kinderlandverschickung wollte er nicht, deshalb kam er schon als Neunjähriger zu Verwandten nach Meldorf in Dithmarschen.

Vorher war er schon bei Familienangehörigen in Angeln, nördlich der Schlei, auf dem Bauernhof untergekommen. "Dort sprach man Angeliter Platt." In Meldorf, wo er dann das Gymnasium besuchte, hörte er Dithmarscher Platt. Und in Wyk auf Föhr, wo sein Vater ein Haus hatte, lernte er den dritten plattdeutschen Dialekt kennen, den Nordfriesischen. "Die haben das A heller mehr betont."

In Norddeutschland, sagt Carl Groth, sprechen die Menschen manchmal in einem 30 Kilometer entfernten Dorf einen anderen plattdeutschen Dialekt als bei ihnen im Ort. "Wenn man als kleines Kind diese Sprachen kennengelernt hat, dann hat man das für immer intus", sagt er. "Das geht nie wieder weg."

"Messersteck" war also das erste Wort von Carl Groth für diese Zeitung - und Nummer 286 in der Abendblatt-Folge "Sprechen Sie Hamburgisch?". Nun sind 1000 Folgen erschienen, und Carl Groth ist einer der eifrigsten Einsender. Warum er das macht? "Weil es wichtig ist", sagt er und guckt dabei ein bisschen mitleidig. So, als verstehe er die Frage nicht ganz. "Das Plattdeutsche ist doch ein Teil unserer Kultur, die wir erhalten müssen. Das ist wie mit einem alten kostbaren Gebäude, das ja auch unter Denkmalschutz gestellt wird, damit es nicht irgendwann einfach verschwindet."

Carl Groth ist ein ziemlicher Glücksfall für das Abendblatt und all die vielen Leser, die nicht möchten, dass eine wundervolle Sprache stirbt. Dass er einmal so etwas wie ein Archivar vom Aussterben bedrohter Wörter werden würde, hätte man mit etwas Fantasie ahnen können. "Ich habe schon als kleines Kind Geschichten geschrieben", sagt er. Er kennt sogar noch den Titel seiner allerersten Geschichte: "Der abbe Zahn". Carl Groth erinnert sich deshalb so genau daran, weil er noch weiß, wie er seine Mutter fragte: "Mami, wie schreibt man abbe?"

Der abbe Zahn aber war nur der Anfang. Seitdem hat Carl Groth unzählige Geschichten verfasst. Dabei hat er erst einmal, als Hamburg in Schutt und Asche lag, ein Handwerk gelernt und eine Lehre als Tischler gemacht. Dann hat er in Braunschweig Architektur studiert, war zwei Jahrzehnte angestellt und hat sich danach selbstständig gemacht. Bis zu seinem 60. Lebensjahr war er in Hamburg als Architekt tätig. "1990 habe ich mich selbst in Rente versetzt und das Büro geschlossen."

Nun musst du mal was für deinen Kopf machen, hat er gedacht. Und seine alte Liebe, das Segeln, half ihm dabei. Seine Frau hatte nichts dagegen, dass er sich ab und an eine Auszeit auf der See nahm. Er ist auch nach Afrika gereist. Und nach Island. Und mit dem Bananendampfer in die Karibik. Fünf Wochen war er damals unterwegs. "Wir hatten neun und mehr Windstärken." Ausgemacht hat ihm das nichts. Carl Groth fühlt sich auf dem Wasser pudelwohl. Er segelt, seit er neun Jahre alt ist. Beigebracht hatte ihm das seine ältere Schwester.

Carl Groth hat ausgerechnet, dass er - zusammengezählt - etwa acht Jahre seines Lebens auf seiner Yacht verbracht hat. Während der langen Wochen auf dem Schiff hat er dann angefangen zu schreiben. Erst Gedichte, später Geschichten. Immer auf Plattdeutsch, manchmal in hochdeutscher Übersetzung.

"Wissen Sie, das Plattdeutsche kennt keine Bandwurmsätze", sagt er. Das gefällt ihm. Und außerdem sei die Sprache gefühlvoller als Hochdeutsch. "Das Schimpfen wird gemütlich", beschreibt er das Phänomen.

Er hat Kurzgeschichten geschrieben und Erzählungen. Monologe und Parabeln, Krimis und Fabeln, Glossen und Grübeleien, Reiseberichte und Beobachtungen, Briefgeschichten und Erinnerungen. Er hält Lesungen und ist Preisträger mehrerer lokaler und überregionaler Literaturwettbewerbe. Für den NDR hat Carl Groth ein knappes Dutzend Hörspiele verfasst. Unter seinem Namen findet man seine Bücher und Hörspiele auf 16 Seiten im Internet.

Die Ideen gehen ihm nichts aus. Er geht mit großen Augen durch die Welt. Und manchmal stecken ihm Mitbewohner aus dem Augustinum kleine Zettel unter der Tür durch, auf denen Zeitungsmeldungen stehen wie: "Handy im Kabeljau". Und der Zusatz: "Herr Groth, Sie interessieren sich doch für so etwas. Machen Sie doch da mal eine Geschichte draus." Und dann wurde ein Hörspiel daraus.

Carl Groth, der mit einer ganz eigenen Technik auch spannende Aquarelle malt, wird also immer weiterschreiben. Wird Erlebtes, Erdachtes und Fantastisches zu Papier bringen. Vor fünf Jahren ist seine Frau gestorben. Wenn jetzt die Krähen vor dem Fenster kreischen, denkt er manchmal, ob das sein kann, dass seine Frau vielleicht ab und zu vorbeifliegt und durchs Fenster schaut. Um zu gucken, was der Kuddel gerade so macht.

Angst vor dem Tod hat er nicht. "Nö", sagt er. "Wissen Sie was? Es gab nie im meinem Leben eine zufriedenere Zeit als das Jetzt." Er gibt jedem Tag eine feste Struktur. "Das ist wichtig." Steht um sechs Uhr morgens auf. Schwimmt ein paar Bahnen im hauseigenen Pool, der dort, wo die Treppe ins Wasser führt, 8,70 Meter lang ist. "Genauso lang wie mein letztes Boot."

Nach dem Frühstück setzt er sich an seinen Schreibtisch und verfasst als Erstes ein paar Zeilen für das Abendblatt. Carl Groth hat alle seine plattdeutschen Begriffe akribisch in einer Liste aufgeführt. Von A wie "asich" bis Z wie "zupass kommen". 600 Wörter sind das. Stand jetzt. Gedruckt hat das Abendblatt bisher 180.